Wer ist Amanda Knox?

Porträt Amanda Knox wurde als Mörderin verurteilt, dann freigesprochen und jetzt erneut für schuldig befunden. Unser Autor hat seit fünf Jahren mit ihr Kontakt. Nun traf er sie
Ausgabe 08/2014
Wer ist Amanda Knox?

Foto: Patrick Kehoe / Guardian

3. August 2009

Lieber Simon Hattenstone, ich bin etwas nervös beim Schreiben dieses Briefs. Ich weiß nicht mehr, was ich von Journalisten und dem Journalismus an sich halten soll. Mein ganzes Leben habe ich diesen Beruf bewundert und sogar mit dem Gedanken gespielt, selbst Journalistin zu werden. Doch dann wurde all das zerstört. Und ich blieb zurück – geschockt, wütend und mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein.

Das waren die ersten Zeilen, die mir Amanda Knox vor fast fünf Jahren schrieb. Ein paar Monate zuvor hatte ich ihre Mutter interviewt und Knox eine Kopie des Artikels ins Gefängnis in Perugia geschickt. Dort saß sie fast zwei Jahre in Untersuchungshaft – wegen des Vorwurfs, zusammen mit ihrem damaligen Freund Raffaele Sollecito die 21-jährige Studentin Meredith Kercher getötet zu haben.

Im folgenden Prozess vertrat der Staatsanwalt die These, Knox und Sollecito hätten Kercher zusammen mit Knox’ Mitbewohner Rudy Guede getötet, nachdem ein Sexspiel eskaliert sei. In der Verhandlung wurde Knox als sexbesessene und misogyne Hexe dargestellt, die Sollecito, mit dem sie erst seit sechs Tagen zusammen war, dazu überredet habe, ihre WG-Mitbewohnerin am 1. November 2007 zu erstechen.

Als ich den Brief von Knox erhielt, erinnerte ich mich an etwas, das mir ihre Mutter erzählt hatte. Sie habe immer an die Unschuld ihrer Tochter geglaubt, sagte sie und wiederholte zunächst die Standardargumente der Verteidigung: der Mangel an DNA-Beweisen, das fehlende Motiv und die fehlende kriminelle Vorgeschichte. Aber dann fügte sie etwas hinzu: „Amanda kann nicht lügen. Wenn Sie sie fragen ‚Was hältst du von meinen Schuhen?‘ und sie findet sie grässlich, dann sagt sie Ihnen, was sie denkt. Das war schon immer so.“

Sie belastete sich selbst

Am schwersten hat sich Amanda Knox selbst belastet. Im November 2007, gegen Ende eines viertägigen Verhörs durch die italienische Polizei, gestand sie, beim Mord am Tatort gewesen zu sein. Sie habe sich die Ohren zugehalten, um Kerchers Schreie nicht zu hören. Sie beschuldigte Patrick Lumumba, für den sie in einer Bar arbeitete, ihre Mitbewohnerin erstochen zu haben. Nach wenigen Stunden widerrief sie ihre Aussage. Man habe sie unter Druck gesetzt und ihr gedroht, bis sie nicht mehr gewusst habe, was sie sage. Es stellte sich heraus, dass Lumumba ein Alibi hatte.

Boulevardreporter wurden in Knox’ Heimatstadt Seattle geschickt, wo Bekannte sie anonym als Drogensüchtige und zügellose Nymphomanin beschrieben. Man analysierte ihre Facebook-Seite, ihre Bilder und Kommentare. Dass sie und Sollecito sich am Tag nach Kerchers Tod küssten, wurde ebenso gegen sie verwendet wie der rosa Vibrator, den sie nach Perugia mitgebracht hatte. Selbst ihre Augen sprachen gegen sie: zu eisblau, um unschuldig zu sein.

Und schuldig oder nicht, sie machte auch einige gravierende Fehler – angefangen bei ihrem falschen Geständnis, bei dem sie einen unschuldigen Mann des Mordes bezichtigte bis zu ihrer Entscheidung, unmittelbar nach der Tat nicht an einer Trauerfeier für Kercher teilzunehmen. In der Mordnacht hatte Knox gekifft, was ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigte. Sie belog die Polizei wegen des Dopes und stimmte zu, vier Tage lang in einer Sprache vernommen zu werden, die sie noch kaum beherrschte – und das alles ohne Anwalt.

Im Dezember 2009, zwei Jahre nach dem Mord an Kercher, wurden Knox und Sollecito schuldig gesprochen. Knox bekam wegen der Falschaussage gegen Lumumba drei Jahre extra. Das Zimmer, in dem Kercher ermordet worden war, war voll mit DNA von Rudy Guede. Von Knox und Sollecito wurde am Tatort nichts gefunden. In Sollecitos Wohnung konnte die Polizei ein Messer sicherstellen, auf dem sich DNA von Knox und Kercher fand. Und Sollecitos DNA wurde an Kerchers BH entdeckt.

Nach dem Mord war Guede zunächst nach Deutschland geflohen. Dort wurde er von einem Freund angeskypt. Die Polizei hörte mit. Der Freund fragte ihn, ob Knox und Sollecito an dem Mord beteiligt waren. Nein, antwortete Guede. Sollecito kannte er noch nicht einmal. Erst nachdem er Wochen später verhaftet worden war und breit über Knox und Sollecito berichtet wurde, nannte Guede ihre Namen. Er behauptete, er habe einvernehmlichen Sex mit Kercher gehabt. Dann sei er zur Toilette gegangen und als er zurückkam, habe er Knox und Sollecito vorgefunden, die dabei waren, Kercher zu töten. Das Gericht glaubte ihm nicht und er wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt. Nachdem er Knox und Sollecito mitbelastet hatte, wurde die Strafe auf 16 Jahre wegen Beihilfe zum Mord verringert.

Nach Knox’ Verurteilung schrieben wir uns weiter Briefe. Sie beantwortete aber keine Fragen zu der Tat. Wohl auch, weil sehr wahrscheinlich die Briefe alle geöffnet wurden. Sie dankte mir für Magazine und fragte nach meinen Kindern. Sie schien sich nach Normalität zu sehnen. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Erzählungen von Schulausflügen, Hausaufgaben und Freundschaften waren für sie eine Art Ersatz, durch den sie quasi stellvertretend lebte. Sie schrieb über die positiven Dinge im Gefängnis: ihre Freundschaft mit dem Kaplan, das Joggen im Hof, das Gitarrespielen im Kirchenchor, die Briefe von ihrer Freundin Madison. Manchmal klang sie entsetzt oder gebrochen. Vor allem klang sie aber sehr, sehr jung.

17. Dezember 2009

Lieber Simon, in letzter Zeit bin ich psychisch sehr labil. Manchmal macht mir die Größe und Absurdität von all dem wirklich Angst und ich fühle mich so schrecklich verletzlich und ohnmächtig. Heute habe ich meiner alten Freundin Madison geschrieben. Ich habe versucht, ihr zu erklären, wie gern ich ihre Hand halten würde. Dabei ging es mir gut. Ich war mir sicher, dass alles doch noch gut ausgehen wird. Ich glaube wirklich, dass ich irgendwann nach Hause gehen werde. Ich weiß aber nicht, ob ich einfach nur krank bin. Jedenfalls habe ich das heute gedacht.
Peace, Amanda

Mit der Zeit wurde das Briefpapier besser, oft war es nun illustriert mit Schmetterlingen oder Vögeln, Symbole der Hoffnung.

Im Laufe der folgenden Monate ging Knox’ Einspruch durch die Instanzen bis das Urteil gegen sie und Sollecito im Oktober 2011 schließlich aufgehoben wurde. Ein unabhängiges Gutachten hegte Zweifel an der gefundenen DNA, äußerte Bedenken wegen mangelnder Gründlichkeit bei der Sicherstellung der Beweise und schloss Verunreinigungen nicht aus.

Als Knox nach ihrer Freilassung nach Seattle zurückgekehrt war, begannen wir uns zu mailen. Sie versuchte, wieder ein normales Leben zu führen, ging wieder an die Uni, um ihr Studium in Kreativem Schreiben zu beenden. Sie hatte einen neuen Freund und arbeitete an einem Buch über ihren Prozess. Als bekannt wurde, dass sie einen Vorschuss von 3,8 Millionen US-Dollar dafür bekam, gab es einen Aufschrei. Doch das Buch werde sie nicht reich machen, schrieb sie mir. Ihre Familie habe sich durch die Anwaltskosten hoch verschuldet und eine Hypothek auf das Haus aufnehmen müssen, so dass der Vorschuss wahrscheinlich nach der Ablösung nicht einmal reiche, um sie durchs Studium zu bringen.

Neue Anklage, neues Motiv

Als der Veröffentlichungstermin des Buches näher rückte, beantragte das Kassationsgericht in Rom die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 3. April 2013 schrieb Knox mir eine E-Mail zu der Wiederaufnahme. Sie war noch immer überzeugt, erneut freigesprochen zu werden. Dieses Mal ging die Staatsanwaltschaft nicht mehr von einem außer Kontrolle geratenen Sexspiel aus, sondern von einem Streit um Sauberkeit. Kercher habe sich darüber beschwert, dass jemand die Toilette nicht richtig gespült habe, so die Ankläger. Der Konflikt sei eskaliert und Knox, Sollecito und Guede hätten Kercher gemeinsam getötet.

Ende Januar, eine Woche vor dem dritten Urteilsspruch, verabreden wir uns zum ersten Mal zu einem persönlichen Treffen. Knox schlägt ein Café in der Nähe ihrer Wohnung in Seattle vor. Nach fünfjähriger Korrespondenz weiß ich immer noch nicht, wer mich nun erwartet – der selbstbewusste Gast in Fernsehtalkshows oder die verwirrte junge Frau, die mir geschrieben hat.

Sie verspätetet sich etwas. Eine schlanke 26-Jährige mit Baskenmütze und einer John-Lennon-Brille, kein Make-up. Ihre Stimme klingt selbstbewusst. Wir geben uns die Hand. Sie bringe gerne Leute hierher, sagt sie. „Es ist gut was los und trotzdem ist man noch für sich.“ Sie ist stolz auf ihre Heimat Seattle, spricht von der Musikszene und dem bekannten Fischmarkt.

Dann beginnt sie zu erzählen, wie die Medien aus Gesten und Szenen, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden, ein möglichst dramatisches Bild von ihr konstruiert hätten. Ich frage nach dem Kuss, den sie Sollecito am Morgen nach dem Mord gegeben hat. „Das Foto davon wurde so interpretiert, als hätten Raffaele und ich heimlich unseren Triumph gefeiert. Sie stellten es so dar, als ließe mich das alles kalt. ‚Da sitzt sie und macht mit ihrem Freund rum, so sexbessesen ist sie.‘ In Wirklichkeit war ich völlig fertig und stand unter Schock.“ Sie zeigt mit dem Finger auf mich: „Ihr habt mich den ganzen Morgen über gefilmt und dann nehmt ihr eine einzige Geste und tut so, als könnte sie den ganzen Vormittag zusammenfassen.“

Sie erzählt, dass sie nach ihrer Rückkehr zweimal eine Therapie begonnen hat, aber jeweils wieder abbrach: „Es gibt mir das Gefühl, ich würde mich gehen lassen.“ Dieses Thema taucht bei ihr immer wieder auf: die Sorge, sie könnte schwach wirken und ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben. Nimmt sie Antidepressiva? „Neeein“, ruft sie. „Nicht die Chemie meines Hirns ist das Problem, sondern die Realität.“

Es frustriere sie, wenn ihr jemand sage, die Wahrheit werde nie ans Licht kommen – das sei zu kompliziert. „Ich finde es ziemlich offensichtlich, dass ich unschuldig bin. Den vorliegenden Beweisen zufolge kann ich es unmöglich gewesen sein. Meredith war meine Freundin. Ich war noch nie straffällig und im Zimmer findet sich keine einzige Spur von mir.“

Wie war es möglich, dass sie sich zunächst sicher war, dass sie und ihr Freund während der Tat nicht in der Wohnung gewesen seien, dann aber aussagte, sie sei am Tatort gewesen und zudem einen Unschuldigen belastete? „Die Polizisten sagten, ich müsse mich erinnern. Wenn nicht, käme ich ins Gefängnis. Ich dachte, es sei meine Schuld, dass ich verwirrt war – sie haben es so dargestellt, als würde etwas mit mir nicht stimmen. Dann haben sie behauptet, Raffaele habe gesagt, ich sei nicht bei ihm gewesen. Das hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.“

Hat sie sich Vorwürfe gemacht, Lumumba zu Unrecht beschuldigt zu haben? „Ja, sehr. Ich dachte, ich sei schwach gewesen und hätte es deshalb verdient, verurteilt zu werden.“ Versteht sie, dass er sie hasst? „Ja, Patrick war tief verletzt und hat nie Antworten von mir erhalten. Ich befand mich aber in einer Lage, in der ich ihm keine geben konnte. Wenn Sie die Verhörprotokolle lesen, steht da aber auch, dass ich angab, ich könne nicht gegen ihn aussagen. Trotzdem behauptet sein Anwalt, ich hätte ihn im Gefängnis schmachten lassen. Und trotz des Alibis hielt ihn die Polizei weiter fest. Er sollte nicht nur auf mich wütend sein.“

Am meisten wünsche sie sich, die Kerchers zu überzeugen, dass sie nicht für Merediths Tod verantwortlich sei. „Ich kann verstehen, dass es schwer für sie ist, an meine Unschuld zu glauben. Ich hoffe einfach, dass es mir irgendwann gelingt, wenn ich genügend Informationen habe.“

Am 30. Januar bestätigt ein Gericht in Florenz das ursprüngliche Urteil: Sollecito und Knox werden schuldig gesprochen und zu 25 beziehungsweise 28 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Anwalt der Kerchers spricht von „Gerechtigkeit für Meredith und ihre Familie“.

Drei Tage später rufe ich Knox auf ihrem Handy an. Sie ist gerade in einem Uni-Kurs. Als sie zurückruft, sagt sie, an der Uni fühle sie sich etwas geborgen. Welche Auswirkungen hat die erneute Verurteilung auf ihr Leben? „Hier in den USA, wo viele mir immer noch glauben, fühle ich mich zwar sicherer. Aber ich bin eine Gebrandmarkte, so oder so. Als Freigesprochene gebrandmarkt zu sein, ist das eine, als Kriminelle ist es aber noch viel schlimmer. Es ist, als hätte man bei mir Krebs diagnostiziert. Ich kann nirgendwohin. Überall weiß man, dass ich die bin, die zum zweiten Mal verurteilt wurde. Ich werde mich nie damit abfinden, dass jemand sagen kann, ich sei eine verurteilte Mörderin.“

Ihre Freunde rieten ihr, ihr Leben weiterzuleben. „Aber ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich erinnere mich an das Gefühl, das ich hatte, als ich im Gefängnis war. Und plötzlich kann ich Leute verstehen, die versuchen, sich das Leben zu nehmen, weil sie meinen, überall gefangen zu sein.“

In Florenz kündigen die Anwälte von Knox und Sollecito unterdessen an, in Berufung zu gehen.

Simon Hattenstone ist Reporter des Guardian.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Hattenstone | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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