Hier gibt’s keine Krise

Propaganda "Keep Calm and Carry on" fordert der zurzeit beliebteste Slogan Großbritanniens. Experten sagen, der Spruch habe mit der stoischen Mentalität der Briten nichts zu tun

Heutzutage würde ein solcher Auftrag an eine Kommunikationsagentur vergeben. Damals, im Frühjahr 1939, wurde ein anonymer Beamter mit der Aufgabe betraut, sich einen Slogan für ein Propagandaplakat zu überlegen, das die britische Bevölkerung beschwichtigen und ihnen Zuversicht zusprechen sollte, wenn bewaffnete Nazihorden auf der Insel einfielen.

Es war das dritte in einer Serie von Postern. Das erste, welches die Standhaftigkeit und Entschlossenheit der Öffentlichkeit stärken sollte, verkündete: „Euer Mut, euer Frohsinn, eure Entschlossenheit werden uns den Sieg bringen.“ Mehr als eine Million Exemplare wurden davon gedruckt. Das zweite unterschied sich im Design nicht von seinem Vorgänger, im Wortlaut aber schon: „Die Freiheit ist in Gefahr“, war darauf zu lesen.

Garanten des Sieges: Mut - und Frohsinn

Auf Anschlagtafeln, in Läden, auf Bahnsteigen – überall im Vereinten Königreich sah man dann ab August 1939 diese beiden Plakate. Das dritte allerdings wurde zurückgehalten, für die wirkliche Krise: die Invasion. Ein paar vereinzelte Exemplare werden den Weg an die Bürowände privilegierter Beamte gefunden haben, die große Mehrheit der britischen Öffentlichkeit hat sie aber nie zu Gesicht bekommen. Jenes dritten Plakat rief auf: "Keep Calm and Carry On" – Bleiben Sie ruhig und machen Sie weiter!

Dieser Tage allerdings taucht es plötzlich überall auf, in Wohnzimmern, Pubs und den Büros der Regierungsmitarbeiter. Das Lord Chamberlain’s Office im Buckingham Palace, die Strategieabteilung des britischen Premiers in der Downing Street Nummer 10, die Strafverfolgungsbehörde Serious Fraud Office, die US-Botschaft in Belgien, der Vizekanzler der Universität Cambridge, das Notfallbüro des Kreises Nottingham, die Offiziersmesse in Basra - sie alle haben ein Exemplar bestellt. Sogar ein T-Shirt David Beckhams verziert dem Vernehmen nach das Motiv.

60 Jahre lang war das Poster in der Vergessenheit versunken. Bis Stuart Manley eines Tages im Jahr 2000 in einer ersteigerten Bücherkiste „am Boden ein großes Stück gefaltetes Papier,“ fand. „Ich faltete es auf und dachte: Wow, das ist was! Mary, der ich es zeigte, war derselben Meinung. Also rahmten wir es und hängten es im Laden auf. So fing alles an,“ berichtet der Inhaber des Buchladens Barter Books in Alnick, Northumberland.

Alles wird gut. Ganz sicher

Heute kann man in Großbritannien Keep Calm and Carry On-Becher, -T-Shirts, -Pullover, -Handschellen, -Babykleidung und -Reisetaschen kaufen. Oder den Spruch als Bildschirmschoner auf dem Handy oder Computer installieren. Sogar Parodien gibt es schon. Die Faksimiles des Posters verkaufen sich zu zehntausenden. Manley, der die ersten Nachdrucke hergestellt hatte, nachdem immer wieder Kunden das Poster hatten kaufen wollen (einer bot sogar 1000 Pfund), hat rund 41.000 Kopien an den Mann gebracht. Dabei ist er noch nicht einmal der einzige Verkäufer. Mike Coop, der den Onlineshop Keepcalmandcarryon.com betreibt, setzt eigenen Schätzungen nach zwischen 300 und 500 Produkte pro Woche um - und gesteht, schon versucht zu haben, sich die Rechte an dem Spruch zu sichern. Lucas Lepola von der Keep-Calm-Gallery wiederum verkauft „ungefähr 500 Stück im Monat.“

Der Sozialpsychologe Alain Samson von der London School of Ecomomics meint, die Menschen würden in schwierigen Zeiten „vereint durch die Suche nach gemeinsamen Werten oder Zielen, wie sie von der Krone und dem Aufruf zur Ausdauer symbolisiert werden. Die Worte sind darüber hinaus ausgesprochen positiv und stiften Sicherheit in einer Periode der Unsicherheit, Verängstigung, vielleicht gar des Zynismus.“

Lesley Price, die an der Universität von Birmingham Sozialpsychologie lehrt, drückt es noch direkter aus: „Es ist eine leise, ruhige, autoritäre, unverblümte Stimme der Vernunft. Mit der Stiff-Upper-Lip-Haltung der Briten hat es nichts zu tun. Die Sache ist doch, dass den Leuten seit den Siebzigern eine Lüge verkauft worden ist. Ihnen wurde das Blaue vom Himmel versprochen und jetzt müssen sie sich um alles Sorgen machen – ihre Jobs, ihre Häuser, ihre Bank, ihr Geld, ihre Rente. Dieser Spruch vermittelt ihnen, dass es jemanden gibt, der weiß, was los ist und dass alles gut werden wird.“

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jon Henley, The Guardian | The Guardian

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