Sweatshops Bangladeschs Textilindustrie muss reformiert werden, um die Arbeiterinnen von der „Sklavenarbeit“ zu befreien, meint Nobelpreisträger Muhammad Yunus
Für die Menschen in Bangladesch symbolisiert die Tragödie von Savar unser Versagen als Nation. Der Riss, der den Zusammenbruch des Hauses verursacht hat, steht für die Risse in unserem System. Wir müssen uns ihnen stellen, wenn wir nicht als Nation verschüttet werden wollen. Die Seelen derer, die ihr Leben im Rana Plaza verloren haben, blicken auf unsere Taten und lauschen, was wir zu sagen haben. Wir sind von ihrem letzten Atem umgeben.
Haben wir überhaupt irgendetwas aus diesem schrecklichen Verlust von Menschenleben gelernt? Oder haben wir unsere Pflicht schon damit erfüllt, dass wir unser tiefes Mitgefühl zum Ausdruck gebracht haben? Uns erreicht die Nachricht von einem tödlichen Feuer in einer weiteren Fabrik in Dhaka. Was sollen wir jetzt
in Dhaka. Was sollen wir jetzt tun? Wichtige Fragen über die Zukunft der Textilindustrie sind aufgeworfen worden. Papst Franziskus sprach in Bezug auf die Arbeitsbedingungen der Näherinnen von Sklavenarbeit. Mit Disney hat sich ein großer ausländischer Abnehmer entschlossen, sich aus Bangladesch zurückzuziehen. Sollten andere folgen, könnte die Wirtschaft des Landes schweren Schaden nehmen. Der Industriezweig hat das Leben von Frauen und damit die gesamte Gesellschaft zum Positiven verändert. Wir dürfen nicht zulassen, dass er zerstört wird. Vielmehr müssen wir alle dafür sorgen, dass die Textilindustrie Bangladeschs gestärkt wird. Dazu müssen auch die ausländischen Unternehmen ihren Teil beitragen. Ich schlage vor, dass die ausländischen Unternehmen, die in Bangladesch produzieren, sich zusammen auf einen festen, international gültigen Mindestlohn für die Branche einigen. Er könnte etwa bei 50 Cent pro Stunde liegen. Das wäre doppelt so hoch wie das, was in Bangladesch heute für gewöhnlich gezahlt wird. Es wäre ein integraler Bestandteil zur Reform der Industrie und würde mit dazu beitragen, dass künftige Tragödien verhindert werden. Wir müssen den internationalen Unternehmen klar machen, dass die Arbeiterinnen zwar in Bangladesch sitzen, mit ihrer Arbeitskraft aber einen Beitrag zu deren Geschäften leisten und somit auch Ansprüche geltend machen können. Die geographische Trennung sollte kein Grund dafür sein, das Wohlergehen dieser Arbeiterinnen einfach zu ignorieren. Natürlich müssen wir uns darauf gefasst machen, dass der Markt negativ reagiert. Einige werden argumentieren, dass Bangladesch den Wettbewerbsvorteil verliert, den es sich als Spitzenreiter in Sachen Niedriglöhne verschafft hat. Um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, müsste das Land seine Attraktivität auf andere Weise erhöhen – indem es beispielsweise Produktivität und Qualifikation der Arbeiterinnen erhöht, das Vertrauen der Käufer wiedergewinnt und für sichere Arbeitsplätze sorgt. Solange wir es nicht schaffen, einen internationalen Mindestlohn auszuhandeln, werden wir auch den Begriff der Sklavenarbeit nicht los, den unter anderem der Papst ins Spiel brachte. Es wird nicht leicht, genügend Unterstützung für den Mindestlohn in der Textilbranche zu finden. Doch kann es gelingen, wenn man nur ernsthaft und hartnäckig genug mit Politikern, Unternehmen, Bürgern, Kirchen und Medien der Länder, in den die Textilien verkauft werden, diskutiert. Ich habe in der Vergangenheit schon oft erfolglos versucht, ausländische Aufkäufer zu überzeugen. Jetzt – nach der Tragödie von Savar – hat das Thema aber eine neue Dringlichkeit bekommen. Ich will meine Freunde im In- und Ausland mobilisieren, sich dieses Mal hartnäckiger und dauerhafter dafür einzusetzen. Nicht alle Unternehmen auf einmal müssten sich auf einen Mindestlohn einigen. Wenn einige führende Unternehmen die Initiative ergreifen, würde das den Ball schon ins Rollen bringen. Es gibt auch noch einen anderen, praktischen Weg, die Arbeitsbedingungen der bangladeschischen Textilarbeiterinnen zu verbessern. Stellen wir uns vor, eine Textilfirma produziert und verkauft ein Kleidungsstück für fünf Dollar. Dann wird es verpackt und mit dem Schiff nach New York verfrachtet. In den fünf Dollar sind nicht nur die Kosten für Produktion, Verpackung, Transport, Profit und Verwaltung enthalten, sondern indirekt auch der Anteil, der an die Baumwollbauern, die Spinnereien und Färberein geht.Wenn die Konsumenten in den USA das Teil im Laden für 35 Dollar kaufen können, sind sie glücklich über das Schnäppchen, das sie gemacht haben. Aber alle, die an der Herstellung beteiligt waren, erhalten zusammen nur fünf Dollar. In den USA werden allein 30 Dollar dafür draufgeschlagen, damit das Produkt zum Endverbraucher kommt. Wenn wir eine kleine Anstrengung unternehmen, könnten wir nun das Leben der Arbeiterinnen gewaltig verändern. Würde der Endkunde im Einkaufszentrum sein Verhalten sehr verändern, wenn er statt 35 Dollar 35,50 Dollar bezahlen müsste? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, die Konsumenten würden es noch nicht einmal bemerken. Wenn es uns gelänge, mit diesen zusätzlichen 50 Cent in Bangladesch eine Treuhand für Textilarbeiterinnen einzurichten, könnten wir die meisten Probleme, mit denen die Arbeiterinnen zu kämpfen haben, lösen: Sicherheit am Arbeitsplatz, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Renten, Gesundheitsversorgung und schulische Ausbildung der Kinder. Um all das könnte sich die Treuhand kümmern. Bangladesch exportiert jedes Jahr Textilien im Wert von 18 Milliarden Dollar. Wenn alle Aufkäufer diesen Vorschlag annähmen, flössen der Treuhand jährlich 1, 8 Milliarden Dollar zu. Das macht 500 Dollar für jede der 3, 6 Millionen Arbeiterinnen. Alles, was wir tun müssen, ist den Verkaufspreis um 50 Cent anzuheben. Dieser kaum spürbare Aufschlag könnte bereits Wunder bewirken. Natürlich könnten die internationalen Ankäufer argumentieren, dass eben diese 50 Cent extra die Nachfrage reduzieren und infolgedessen die Profite sinken könnten. Doch wir bieten ihnen vielmehr ein Arrangement, bei dem ihre Verkäufe steigen würden anstatt zu sinken. Denn die 50 Cent extra könnten als Marketing-Tool genutzt werden, um das Produkt bei den Konsumenten attraktiver zu machen. Wir könnten jedes Teil mit einem speziellen Etikett versehen, auf dem steht: „Von den glücklichen Arbeiterinnen Bangladeschs. Es war uns ein Vergnügen.“ Die Kampagne könnte von der bangladeschischen Grameen-Bank, der NGO Brac oder einer anderen angesehenen internationalen Organisation unterstützt werden. Wenn die Konsumenten sehen, dass eine bekannte und vertrauenswürdige Institution Verantwortung übernimmt, um Gegenwart und Zukunft der Textil-Arbeiterinnen sicherzustellen, dürfte es ihnen nichts ausmachen, fünfzig Cent extra zu bezahlen. Die Verbraucher wären stolz, Produkt und Unternehmen zu unterstützen, anstatt sich schuldig zu fühlen, etwas zu tragen, das unter Arbeitsbedingungen hergestellt wurde, die ethisch nicht zu vertreten sind. Ich erwarte nicht, dass alle Unternehmen sofort meinen Vorschlag umsetzen. Ich hoffe aber, dass ein paar sich zu Experimenten bereiterklären werden und von ihren nationalen Regierungen, Organisationen, die sich für den Schutz von Arbeiterrechten einsetzen, Bürgerinitiativen, kirchlichen Gruppen und Medien dabei unterstützen werden. Die Tragödie von Savar hat eine tiefe Wunde geschlagen und im Bewusstsein der Menschen und des Landes großen Schmerz hinterlassen. Ich bete dafür, dass wir aus diesem tiefen Schmerz heraus einen Weg finden werden, die Probleme unseres Landes zu lösen. Als wir die Tragödie im Fernsehen verfolgten, wurde uns bewusst, wohin unser zerrüttetes System uns gebracht hat. Werden wir nach all dem einfach weiter zusehen, wie so etwas wieder und wieder geschieht? Wann werden wir zur Besinnung kommen?
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