Wo ist die Avantgarde abgeblieben?

Literatur Früher waren die Buchläden voll mit experimenteller Literatur. Und heute? fragt Kritiker Robert McCrum.

Vergangene Woche kam meine Kollegin, die Observer-Kunst-Korrespondentin Vanessa Thorpe, in den Genuss einer Stunde lokaler Berühmtheit . Sie nahm an der Säulen-Installation One and Other des Künstlers Anthony Gormley auf dem Londoner Trafalgar Square teil. Vanessas Stunde war am 14. Juli gekommen, dem Tag des Sturmes auf die Bastille – also verkleidete sie sich natürlich als Marie Antoinette. Außerdem nahm sie einen Stapel Plakate mit, die das Emblem des Observer trugen und auf denen verschiedene Slogans und Zitate zu lesen waren, mit denen sie das Volk provozieren und Debatten anstoßen wollte. Alle hatten eine gute Zeit.

Die Sache hat mich zum Nachdenken gebracht. Über Kunst, Performance-Kunst und schließlich auch über die Avantgarde. Bloß gibt es im Moment nicht wirklich eine Avantgarde – besonders nicht in der Literatur.

Vor einem halben Jahrhundert, als Warten auf Godot der Achtungserfolg des Paris der 50er Jahre war, war Beckett sicherlich Avantgarde. Ebenso sein Schüler Harold Pinter. In Großbritannien gab es neben diesen Neuerern die übersetzten Werke Alain Robbe-Grillets und Fernando Arrabals. Und aus den USA kamen William Burroughs und die Erben der Beat-Generation. In Buchläden musste man nie lange suchen, um auf Avantgardistisches zu stoßen. Einige Verlage, wie zum Beispiel Calder Boyars lebten sogar davon (obwohl über ihre Methoden besser nicht allzu viel gesagt wird). Ungefähr von 1950 bis 1980 war die Avantgarde gesund und munter.

Und heute? Gibt es nichts wirklich Erwähnenswertes. Das Surrealste, das aus der Bücherwelt zu vernehmen ist, ist die Nachricht, dass Random House im September (in Deutschland: Oktober) im Dan Browns Da-Vinci-Code-Nachfolger Das verlorene Symbol mit der größten weltweiten Auflage der Verlagsgeschichte (6,5 Millionen Kopien) herausbringen wird.

Im Bereich der Literatur scheint der globale Markt den Geiste der Innovation abgetötet und dem literarischen Experiment das Blut ausgesaugt zu haben. Wo sind die heutigen Avantgarde-Autoren, die ihre Integrität als Künstler bewahrt und den Mainstream gemieden haben, aber weiterhin neue Werke produzieren? Die Liste muss wohl ziemlich kurz sein und mit Ausnahme einiger Dichter sind die, die draufstehen, beinahe vollkommen unsichtbar.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Robert McCrum, The Guardian | The Guardian

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