Die Rache der Minerva - Zu Beethovens Diabellivariationen

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Könnte Beethoven sich die inzwischen sehr zahlreichen Aufnahmen seiner Diabelli-Variationen anhören - wozu er nicht nur durch die Zeit reisen sondern auch von seiner zur Zeit der Komposition nahezu vollständigen Taubheit geheilt werden müsste - er wäre wohl erstaunt und amüsiert, vielleicht auch verärgert über die Ahnungslosigkeit, mit der die meisten Pianisten diesem Stück begegnen.

Vielleicht wäre es ihm aber auch ziehmlich egal. Denn die Schwierigkeiten, die das Spätwerk Beethovens an seine Hörer und Interpreten stellt, haben eben auch damit zu tun, dass sich darin Beethovens Haltung zu seinem Publikum wandelt. Das "aus der Zeit gefallene", das Carl Dahlhaus dem Spätwerk Beethovens sehr treffend attestiert, rührt maßgeblich von einer Verschiebung der kommunikativen Koordinaten. Beethoven identifiziert sich nicht mehr mit der aktuellen Öffentlichkeit, spricht nicht mehr emphatisch und allgemeinverständlich zu seinen Zeitgenossen. Vielmehr kommuniziert er vermehrt mit sich selbst und mit seinesgleichen. Die äußerlichen Merkmale von Idiosynkrasie, Esoterik und Inkommensurabilität kennzeichnen eben jene Verschiebung hin zu einer privaten bzw. esoterischen Kunst.

Eine starke Parallele besteht zu Goehte, der etwa zur selben Zeit, in den 1820er Jahren, an seinem Faust II arbeitete. Beide, die sich in ihren besten Jahren als höchste Repräsentanten ihrer Kultur betrachten durften und dieses Repräsentantentum auch durch einen ausgeprägt apellativen Charakter ihres Werkes einlösten, neigten in ihrem Spätwerk dann umso mehr zu einem Rückzug ins Private, in die ganz persönliche Liebhaberei.

Schon Thomas Mann beklagte, dass man den Zweiten Teil des Faust gründlich missverstehe, wenn man ihn als demonstrative Aufgipfelung der Kunst betrachte. So viel auch an Wissen und Kunst darin einfloss, und Goehte liebte zu zeigen, was er alles weiß und alles kann, diese Sachen sind nicht mehr adressiert an ein breites Publikum sondern an ein imaginäres, verständiges Ebenbild seiner selbst.

Daher das Abhandenkommen der vermittelnden Instanz. Der Schauspieldirektor aus dem Vorspiel zum Faust, der Goethe in Weimar selber war und der nicht nur Shakespeare im Original als dem Publikum unzumutbar empfand sondern auch Schiller immer wieder dazu anhielt, das Publikum nicht zu überfordern, ist in den Ruhestand gegangen und lässt dem Dichter nun freien Hand.

Was den Zugang zum Spätwerk Goethes und Beethovens so schwierig macht, ist, dass das Werk, je weniger es sich um Allgemeinverständlichkeit bemühen muss und will, es immer idiosynkratischer wird. Das heißt nicht, dass es per se unverständlich ist, sondern, dass immer mehr ganz privates und persönliches einfließt ohne dass es erklärt oder vermittelt wird. Man muss ein intimer Kenner von Leben und Werk sein, um ihnen auf ihren Pfaden noch folgen zu können. Thomas Mann verteidigt den Zweiten Faust Teil enthusiastisch auch deswegen, weil er tatsächlich jener intime Kenner des Kosmos Goehte war und den Beziehungsreichtum, die ironisch autoerotische Selbstunterhaltung Goethes nachvollziehen und nachkosten kann.

In Beethovens Spätwerk, namentlich den letzten drei Sonaten, den letzten Streichquartetten und den Diabelli-Variationen atmet ein durchaus ähnlicher Geist, auch dort findet man ein merkwürdiges, oft unvermitteltes Nebeneinander von Klangsensualismus und formalen, harmonischen und kontrapunktischen Experimenten, die nicht mehr nach objektiv nachvollziehbarer Geschlossenheit streben, sondern in gewisser Weise Selbstzweck bleiben.

Igor Strawinsky reagierte sehr unwirsch als Marcel Proust mit ihm über Beethovens späte Streichquartette reden wollte. Auch Strawinsky war solch ein intimer Kenner der Materie, einer jener imaginativen Ansprechpartner Beethovens, der den verwickelten Pfaden des Meisters weiter folgen konnte als die meisten. Ihm war vollkommen bewusst, dass einem musikalisch halbgebildeten, selbst mit einem so verfeinerten Sensorium wie Proust, die Wege in Beethovens Spätwerk verschlossen bleiben mussten.

Für die Diabelli-Variationen gilt im Grunde ähnliches. Ein Nichtmusiker kann sich das Stück anhören und vielleicht auch ein gewisses Vergnügen an harmonischen schönen und rhythmischen suggestiven Passagen, an virtuosem und cantablen Klavierspiel haben, einen annähernd deutlichen Begriff, was Beethoven da tut und meint, wird er jedoch nie bekommen. Musikwerke wie diese sind tatsächlich esoterische Kunst, da können fromme Vermittler der Klassischen Musik noch so sehr die weißen Fahnen schwingen.

Selbst viele Pianisten werden Schwierigkeiten haben die kompositorische Komplexität des Stückes zu erfassen. Bei Bachs Goldberg Variationen ist die Komplexität der Canons noch einigermaßen offensichtlich, wobei auch hier, ähnlich wie beim Schachspiel, nur der Eingeweihte ein echtes Gefühl von der Tiefe der kontrapunktischen Komplexität hat, der interessierte Laie eher nur eine vage Ahnung.

Die Komplexität bei Beethoven hat jedoch eine völlig andere Qualität. Paradoxerweise sind etwa die kontrapunktischen Passagen bei Beethoven nicht unter kontrapunktischen Gesichtspunkten komplex, ja sie hätten wahrscheinlich vor Bachs Augen wenig Gnade gefunden. Die Komplexität besteht in der Kollision von barocker Kontrapunktik und klassischer Periodik, und, wenn man will, auch eines bereits sich Bahn brechenden romanischen individuellen Ausdruckswillens. Wie Beethoven diese Energieströme zusammenzwingt, darin offenbart sich ein beeindruckender, gewaltsam schöpferischer Akt, der schon an Nietzsche denken lässt.

Auch hier mag man unwillkürlich an den Zweiten Teil des Faust denken, der griechische Antike und die frühe Neuzeit mit einer gewissen Gewaltsamkeit mit der aufklärerischen Gegenwart vermählt. Was bei Beethoven die Kontrapunktik ist bei Goethe das Versmaß und es besteht durchaus eine Ähnlichkeit, und auch eine ähnliche ästhetische Fragwürdigkeit, zwischen Beethovens herrischer Aneignung der Fuge und Goethes Übertragung von Versmaßen aus einem anderen Sprachidiom ins Deutsche. Doch in beiden Fällen spielen ästhetische Fragen eigentlich keine Rolle mehr, es geht um die Sprengung von Grenzen, um den prometheischen Akt der Neuschöpfung.

Was bei den Diabelli-Variationen hinzukommt, ist, dass diese Komplexität eng mit einem anderen konstituierenden Element verknüpft: der Ironie. Und das ist es genau, was die meisten Pianisten nicht recht zu begreifen scheinen. Sie spielen das Stück als sei es eine Fortsetzung der letzten Klaviersonate, als sei alles genau so gemeint wie es geschrieben steht.

Welcher Art diese Ironie ist, begreift man erst, wenn man sich die Umstände der Entstehung klar macht. Bekanntlich hatte der Verleger Anton Diabelli eine Schar von Wiener Komponisten darum gebeten, je eine Variation auf einen von ihm geschriebenen Walzer zu schreiben. Wer Beethovens narzisstischen Charakter kennt, dem sollte klar sein, dass jemand wie er das als Unverschämtheit aufgefasst hat.

Beethoven wusste sehr gut wer er war und war durchaus kein einfacher Zeitgenosse. Einen Kopisten seiner Missa Solemnis, der seiner Aufgabe nicht gerecht wurde (was jedem, der die Sauklaue von Beethoven kennt durchaus verständlich ist) fuhr er an: "Schreib-Sudler! Dummer Kerl! Korrigieren Sie Ihre durch Unwissenheit, Übermut, Eigendünkel und Dummheit gemachten Fehler, dies schickt sich besser, als mich belehren zu wollen, denn das ist gerade, als wenn die Sau die Minerva lehren wollte."

Nun sollte er, Beethoven, der sich auf Augenhöhe mit Goethe und Napoleon sah, auf ein Stück Unterhaltungsmusik eines drittklassigen Komponisten, der zu allem Überfluss auch noch ein ausbeuterischer Verleger war, eine Variation komponieren und sich in eine Reihe mit Duzenden Hinz-und-Kunz Komponisten stellen. Das war nun doch zuviel.

Viele naive Kommentatoren meinen, Beethoven habe dann doch Geschmack an dem Stück gefunden und war so freundlich dem guten Diabelli einen ganzen Zyklus zu schreiben. In Wahrheit sind die Diabelli Variationen jedoch eine grausam ironische Rache an Diabelli.

Denn Beethoven stellt das Verhältnis von Thema und Variationen auf den Kopf. Er nimmt den deutschen Begriff der "Veränderung" beim Wort. Statt einer freundlichen Variierung, Umspielung, Ausschmückung des Themas, wie es Tradition ist, misshandelt und zerstört er Diabellis Thema. Er springt damit um wie Jupiter der Anmaßung eines Sterblichen begegnen würde. Oder wie Prospero, der sich zur Rache seiner Zauberkräfte bedient.

Schon die erste Variation stellt klar, was Sache ist. Üblicherweise ist die erste Variation ein sanfter Einstieg, eine behutsam ausgezierte Variation des Themas. Beethoven schreitet dagegen gleich mit einem herrischen Marsch, das kaum irgendeine Ähnlichkeit mit dem Thema hat, über das Thema hinweg. Erbarmungslos treibt Beethoven dem Thema seine Harmlosigkeit aus.

Und hier kommt auch die kompositorische Komplexität ins Spiel, die hier über die handwerkliche Komponente hinaus einen psychologischen vernichtenden Effekt hat. Die Periodik ist merkwürdig verschachtelt, Ende und Beginn von Phrasen ineinander verschoben wie es später auch Strawinsky zu tun liebt. Damit schlägt er dem Thema, dessen Periodik von banalster Regelmäßigkeit ist, unmittelbar ins Gesicht.

In jeder weiteren Variation folgen weitere Zumutungen. Statt an irgendeiner Stelle auf das Thema einzugehen und es damit zu achten und zu ehren, wird es motivisch regelrecht demontiert und unkenntlich gemacht. Gleichzeitig finden eine charakterliche Demontage statt, Beethoven bietet einen beträchtlichen Aufwand an nicht nur logischem sondern auch psychologischem Erfindungsreichtum auf, gerade um die harmlose Durchschnittlichkeit des Themas zu demonstrieren. Es mag seltsam klingen, doch eine der wesentlichen künstlerischen Essenzen der Diabellivariationen besteht in der Lust an der Zerstörung.

Beethoven zeigt mit grausamer Ironie wer im Land der Töne Herr und Knecht ist. In diesem Kontext steht auch das Don Giovanni Zitat "Notte e giorno faticar". In dieser Arie geht es ja um den Diener Leporello, der es satt hat seinem Herren Don Giovanni zu dienen. Beethoven, der ökonomisch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Verleger Diabelli stand, tanz ihm hier für einmal auf der Nase herum.

Denn diese Variation ist von ganz eigener Ironie. Diabelli könnte sich ja geschmeichelt fühlen, dass Beethoven sein Thema mit Mozarts berühmtem Don Giovanni in Verbindung bringt. In der Tat besteht in dem Motiv der aufsteigenden Quarte und Quinte eine deutliche motivische Parallele. Doch ist insbesondere der zweite Teil mit seinen unvermittelten Schwenken in andere Tonarten so wunderlich, dass eigentlich kein Zweifel daran bestehen kann, dass er Diabelli auf den Arm nimmt.

Ich gestehe ganz offen, dass auch mir einige Variationen ein Rätsel bleiben. Die motivischen Anknüpfungspunkte sind meist offensichtlich, doch bleibt der musikalische oder außermusikalische Sinn oft kryptisch. Mag auch sein, dass manches reines Spiel eines narzisstischen Olympiers ist, der alles, was seiner Feder entfließt, für gut befindet.

Das alles macht das Stück zu einer nahezu unbezwingbaren Herausforderung für Pianisten. Pianisten, die sich dem Stück mit liebevoller Sorgfalt, mit tiefer Ernsthaftigkeit, mit pianistisch oder analytischem Ehrgeiz nähern und das sind schon neunzig Prozent, werden ihm nicht gerecht, weil ihnen die Ironie entgeht. Die neue Aufnahme mit dem Pianisten Paul Lewis, die der Anlass für die erneute Beschäftigung war, ist ein klassisches Beispiel dafür. Und selbst die, die um die Ironie wissen, verfehlen den Charakter der Ironie. Es geht eben nicht um parodistisches Augenzwinkern oder verschmitztes Understatement, wie etwa Alfred Brendel es kultiviert.

Die Ironie des späten Beethovens ist nicht kommunikativ auf ein Publikum gerichtet, sondern subjektiv und aggressiv. Ihr wohnt auch ein Vernichtungswille inne. Friedrich Gulda hatte durchaus die Aggressivität und das Selbstbewusstsein doch was ihm wiederum fehlte war das Leidenspathos, das Beethovens Ironie untergründet. Denn auch in den Diabelli Variationen trübt sich der aggressive Elan am Ende plötzlich ein. Wie Prospero verliert Beethoven plötzlich die Lust an der Rache und verfällt in der langen c-moll Variation in ein tiefes Grübeln, aus dem er sich, ähnlich wie in der As-Dur Klaviersonate op. 110, schließlich durch eine Fuge befreit, wie überhaupt das Kontrapunktische in Beethovens Spätwerk nicht nur eine Referenz an Bach und die Tradition ist, sondern eine Chiffre der Selbstüberwindung.

Man darf sich durchaus fragen, ob dieses Stück überhaupt interpretierbar ist. Im Grunde muss die Ironie ganz von der charakterlichen Aura her kommen. Sich da irgendetwas zurechtzulegen wirkt von vornherein läppisch ebenso wie technische Perfektion und Detailverliebtheit bei Beethoven eigentlich fast immer kontraproduktiv ist, da durch den Fokus auf das Naheliegende der Blick auf das Große und Ganze zwangsweise getrübt wird.

Im abschließenden Menuett ist Beethoven schließlich wieder oben auf und fast versöhnlich gestimmt. Der Schluss wirkt wie eine merkwürdige Reminiszenz an den Schluss seiner letzten Klaviersonate, als ob er nun auch sein Variationswerk heiter und guten Gewissens abschließen könne. Und für einen Augenblick meint man sogar einen Funken von Dankbarkeit Beethovens gegenüber Diabelli zu erkennen. Dafür, dass er bei ihm mit seiner Unverschämtheit nochmal das Schaffensfeuer zu einem großen Werk hatte entfachen können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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