"I don't care"

Kulturkritik 1913 war das Jahr von "Sacre du printemps" und dem "Tod in Venedig" und gleichzeitig das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg. Wo steht unsere Kultur 100 Jahre später?

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Seit einigen Monaten werde ich von der Stimme einer jungen Frau heimgesucht. Egal ob im Fernsehen oder im Supermarkt, mit geradezu peinigender Unentrinnbarkeit ruft sie mir mit ekstatischer Stimme entgegen "I don't care, I crashed my car into the bridge, I don't care" und "I love it, I love it".

Jedesmal zuckt dabei der Kulturpessimist in mir vor Schreck zusammen. Denn ich habe keinen Zweifel: die Popularität dieses Songs ist kein Zufall, er ist in seiner drogenvernebelten Regression, seiner völligen Ich-Bezogenheit und seinem wummernden Hedonismus perfekter Ausdruck unserer Zeit.

Zufälligerweise wurde vor wenigen Tagen das hundertjährige Jubiläum der Premiere von Strawinskys "Sacre du printemps" gefeiert und man könnte durchaus verblüfft sein darüber, dass wir uns nach hundert Jahren kulturhistorisch an so ähnlicher Stelle wiederfinden.

Gewiss besteht auf den ersten Blick ästhetisch eine gewaltige Kluft. Strawinskys Stück ist das Produkt einer überzüchteten Spätkultur, in der sich letzte aristokratische Ausläufer mit einem plutokratischen Großbürgertum vermischten. Für dieses Publikum traf Strawinsky genau den richtigen Mix aus einer raffinierten, an Debussy und Ravel geschulten state of the art Koloristik und einer die Sinne direkt ansprechenden brutalen Rhythmik.

Auf die raffinierte Ausgesuchtheit von Farben und Geschmäckern gibt in der McDonald Ära der Popmusik kaum jemand mehr etwas, ebensowenig auf ein bürgerlich verwurzeltes handwerkliches Ethos, das für Strawinsky noch eine große Rolle spielte. Heute zählt nur noch Effektivität. Warum hundert Musiker hundert Stunden lang proben lassen, wenn die von einem cleveren Produzenten programmierte drum machine denselben Wums in den Unterleib erzeugen kann.

Doch die Ähnlichkeiten des kulturellen Klimas sind erstaunlich. Derselbe Liberalismus, derselbe Hedonismus und dieselbe Volatilität, wobei alle drei Aspekte im Grunde Erscheinungsformen desselben Prozesses der Auflösung sind. Ernst Bloch nannte Strawinskys sich jeder Mode anschmiegende Kunst "treulos" und trifft damit jenen neuralgischen Punkt. Da ist keine Spur mehr von persönlichem Bekenntnis, von einer Affirmation oder einem Abgleich von Werten, alles nähert sich mehr und mehr der Mode an, bei der nichts schlimmer ist, als von gestern zu sein. Das ist Teil jener modernen Kultur des Rein und Raus, die auch heute das Motto von blühenden Geschäftsfeldern wie Risikokapitalgesellschaften sowie Datingplatformen ist.

Das Jahr 1913 war auch das Jahr von Thomas Manns "Tod in Venedig". Thomas Mann betrachtete die Erzählung rückblickend sehr kritisch, nannte sie "falsch". Ihm war bewusst, dass er mit der Thematisierung von Päderastie eben jene moralische Grenzverletzung begangen hat, die zwar damals vollkommen auf der Höhe der Zeit war, die er im Nachhinein aber als fatal begriff. Bekanntlich sah er einen Zusammenhang zwischen einer Kultur des hedonistischen Liberalismus und Relativismus und den Katastrophen, die darauf folgten.

Natürlich spielt auch "Sacre du printemps" mit der moralischen Grenzüberschreitung. Wenn Leonard Bernstein über das Stück sagt "It's all about sex" hat er durchaus Recht. Durch die Exponierung einer "erwählten Jungfrau" als Opfer liegt das Klima der Massenvergewaltigung gewissermaßen in der Luft. Dass wiederum die junge Frau von heute, bevor sie ihr Auto in die Brücke gefahren hat, auf einer Party war, auf der besinnungslos gesoffen und gevögelt wurde, versteht sich fast von selbst.

Richard Taruskin beschreibt in seiner Strawinsky Biographie, dass jener berühmte Skandal bei der Premiere des "Sacre" zumindest halb kalkuliert war. Der Strippenzieher Sergei Diaghilev, der bei der Premiere von Debussys "Pelleas et Melisande" gelernt hatte, dass es eigentlich keine bessere Publicity und Garantie für gefüllte Häuser gibt als einen handfesten Skandal, hatte durchaus mit Bedacht auf Nijinsky gesetzt, der schon im Jahr zuvor bei Debussys "L'apres midi d'un faune" für einen Skandal gesorgt hatte. Nijinsky war einer jener labilen borderline Charaktere wie sie unter modernen Rockstars relativ häufig vorkommen und eine pathologische Lust an der Grenzüberschreitung haben.

Und sein Plan ging dann ja auch voll auf. Es wird berichtet, dass Diaghilev nach der Skandalpremiere höchst vergnügt und befriedigt mit seinen Mitstreitern gefeiert hat. Auch er mag sich gedacht haben: Ich habe diese Premiere gegen die Wand gefahren, doch ich fühle mich großartig dabei.

Doch wenn an Thomas Manns kulturkritischer Sicht etwas dran ist, dass es kulturelle Symptome für ein politisches Beben gibt, was bedeutet das für heute? Das Jahr 1913 war eigentlich unspektakulär gewesen, kaum einer hatte den Krieg kommen sehen. Besteht uns auch gerade irgend ein Unheil bevor? Ein Krieg, ein Aufstand der zweiten und dritten Welt oder der endgültige Zusammenbruch der Weltfinanzblase?

Natürlich hoffe ich das nicht und versuche mir einzureden, dass es nur ein übermütiger Teenager ist, der da in die Brücke fährt und nicht eine Kultur, die in den Abgrund stürzt.

Das Buch zum Thema:

Florian Illies

1913

Der Sommer des Jahrhunderts

SachbuchHardcoverPreis € (D) 19,99 | € (A) 20,60 | SFR 28,90ISBN: 978-3-10-036801-0

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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