Machismo und Bürgerlichkeit

Giuseppe Verdi Drei Großereignisse zum Abschluss des Verdi Jahres. Die Mailänder Scala eröffnet mit "La Traviata", die Met bringt "Falstaff", auf CD erscheint Riccardo Mutis "Otello".

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Man kann es nicht leugnen. Im Rennen der beiden großen Opernkomponisten Wagner und Verdi, die in diesem Jahr 200. Geburtstag feierten, war Verdi sicher der Verlierer. Trotz der vielen unvermeidlichen Arien Alben und CD Wiederveröffentlichungen sowie zahlreicher Neuinszenierungen auf internationalen Bühnen, spürte man, vor allem im publizistischen Echo auf den Geburtstag am 10. Oktober, allerorten eine gewisse Verlegenheit. Nicht nur, dass die Artikel spärlicher flossen und kürzer ausfielen als bei seinem großen Antipoden Richard Wagner. Auch inhaltlich war ein Ringen um griffige Anknüpfungspunkte und interessante Aspekte festzustellen.

Zwar war Wagner für die kritische Auseinandersetzung schon immer viel ergiebiger als Verdi, die Literatur über Wagner übertrifft die über Verdi um ein vielfaches. Doch fehlte es den Würdigungen auch merklich an Wärme und Enthusiasmus, so dass man um die Feststellung nicht umhin kommt, dass Verdis Stern auch im kulturellen Bewusstsein unserer Tage nicht mehr so hell strahlt wie noch vor 50 Jahren.

Einer der Gründe für das Abnehmen von Verdis Ausstrahlung ist, dass gewisse kulturelle Befindlichkeiten, die das bürgerliche 19. Jahrhundert prägten, ihre Bedeutung verloren haben, und mit ihnen auch die Sehnsüchte, die sich daran knüpften. Der heilige Gral der bürgerlichen Gesellschaft war die Institution von Ehe und Familie. Anders jedoch als die aristokratische Gesellschaft, die dynastische und erotische Interessen getrennt hielt, insistierte man im 19. Jahrhundert auf der idealistischen Auffassung, dass sich in der Ehe patriarchalische Sicherheit und Eros vereinigen ließen.

Was "La Traviata", "Tannhäuser", "Tristan und Isolde", "Carmen", "Madame Bovary", "Effi Briest" und "Anna Karenina" auf fast demonstrative Weise gemein haben, ist das Abarbeiten an eben dieser offener Flanke, jener bürgerlichen Lebenslüge. Ehebruch und die Eros verheißenden Milieus von Halbwelt und Zigeunern sind die Obsession und Sehnsuchtsorte dieser Kultursphäre.

In der Neigung zu kolportagehaften Stücken wie "Rigoletto" (nach Victor Hugo), vielleicht doch "die" Verdi Oper schlechthin, offenbart sich eine verbotene Lust an der Destruktion und emotionalen Abgründen, die die Rückseite der moralisch rigiden bürgerlichen Gesellschaft ist.

Kunst ist insofern immer Kompensation und Gegenprogramm. In der kulturell überzüchteten aristokratischen Welt mit ihren Ritualen und Palästen war die ländliche Welt von Schäfer und Schäferinnen eine Gegenwelt von Natur, Naivität und Unschuld. Heute widerum verrät etwa der immense Erfolg von Filmen wie "Avatar" oder Serien wie "Game of Thrones" eine Sehnsucht nach einem alternativen Leben in Gleichklang mit der Natur und einer tribal archaischen Sinngebung, als Gegenprogramm zur monströsen Technisierung und Ökonomisierung und dem Sinndefizit des modernen konsumistischen Hedonismus.

In "La Traviata" bringen Verdi und Dumas dieses Spannungsfeld von Eros und bürgerlichen Idealen in einer genial simplen Konstruktion auf den Punkt. Denn in den Protagonisten Violetta und Alfredo überkreuzen sich die moralischen Sphären mit den gesellschaftlichen Sphären. Die Kurtisane Violetta verkörpert in Wahrheit die bürgerlichen Ideale von aufopfernder Solidarität und pragmatischer Lebensklugheit während der gutsituierte Alfredo ganz von seinen erotischen Obsessionen und seiner Impulsivität gesteuert ist. Alfredo ist gewissermaßen Don José und Carmen in einer Person. Von ihm hat er die erotische Obsession von ihr das provokativ destruktive Element. Violetta wiederum ist Venus und Elisabeth in einer Person, Verführerin und sich ganz aufopfernde Gefährtin.

Dass "La Traviata" und "Carmen" merkwürdiger Weise dasselbe Schicksal erlitten - die Uraufführung war ein Fiasko, doch kurz danach setzte eine beispielloser Siegeszug ein - hat vermutlich ähnliche innere Ursachen. Nicht nur haben beide Opern zeitgenössische Stoffe, was durchaus unüblich war. Es scheint als ob das bürgerliche Publikum zunächst schockiert war, so unmittelbar mit den eigenen Obsessionen konfrontiert zu werden und sich erst von diesem Schreck erholen musste, bevor es die Opern als Kunst goutieren konnte.

Selbst Alfredo war tatsächlich viel mehr Identifikationsfigur als man heute meint. Er ist ein Typus wie Don Draper in Mad Men, der seine Ehefrauen regelmäßig betrügt und die Klienten regelmäßig beleidigt, der aber trotzdem in allem, was er tut eine merkwürdige intensive Hingabe beweist und gerade deswegen eine mysteriöse Attraktivität besitzt.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die 1950 und 60er Jahre, nicht nur wegen Maria Callas, eine letzte Verdi-Hochphase war, waren diese Nachkriegsjahre doch eine Renaissance der bürgerlichen Kultur mit allem, was dazugehört. Lebemann und Kurtisane feierten als Playboy und Jetset Girl eine merkwürdige Wiederauferstehung. Und Maria Callas, ohne Zweifel "die" Violetta des 20. Jahrhunderts, hatte ja durchaus selbst ein Schwäche für Playboys und Jetset.

In der Saisoneröffnung an der Mailänder Scala mit Diana Damrau und Piotr Beczala in der Regie von Dimitri Tcherniakov, die auf ARTE live übertragen wurde, konnte man Temparatur nehmen, um zu fühlen, ob und wie diese Oper heute noch funktioniert.

Wie zu erwarten war, funktioniert "La Traviata" zwar immer noch als Rührstück a la "Love Story" - der Tod bleibt eben doch eine universelle Erschütterung - doch in ihrer historisch codierten Konstellation als tragische Kollision von zwei in der bürgerlichen Welt unvereinbaren Lebensentwürfen, kann das Stück heute keine Wirkungsmacht mehr entwickeln.

Wenn der Chor als moderne Partygesellschaft auftritt, wirkt das merkwürdig fremd. Der Chor in der romantischen Oper (nicht nur bei Verdi sondern auch bei Wagner und Gounod) ist ein gesellschaftliches Über-Ich. Von einer modernen Partygesellschaft erwartet man dagegen keine moralischen Kommentare mehr, da will nur noch jeder seinen Spaß haben.

Die moderne Party ist ein eskapistischer Raum. Entsprechend ist moderne Partymusik dröhnendes Gewummer, das die Sinne betäuben soll. Alfredos Trinklied dagegen ist ein Walzer, der ungeachtet seiner rauschhaften Potentiale noch vollkommen Gesellschaftstanz, und das heißt gesellschaftlich noch nicht ex-territoriale Zone ist.

Ein ganz in patriarchalischer Sphäre verhafteter Charakter wie Alfredo hat es in der feministischen Ära einfach sehr schwer und indem Tcherniakov Beczala zum Pizza-backenden Hausmann macht, nimmt er ihm vollends die letzte Macho Würde und macht ihn zum weinerlichen Softie. Dass Beczala am Ende ausgebuht wurde, war angesichts seiner vokalen Leistung eigentlich unverständlich. Da schwang unverkennbar, im Mutterland des Machismo, auch Aggression gegen die Desavouierung eines Rollenmodells mit.

Tcherniakov scheint überhaupt, und das scheint im modernen Theaterbetrieb die wichtigste Qualifikation zu sein, ein feines Näschen für aktuelle provokative Potenziale zu haben. So präsentiert er dem italienischen Publikum mit einer Diana Damrau, die, um es freundlich auszudrücken, ein wenig unvorteilhaft eingekleidet war, das Bild einer drallen übermütigen blonden Deutschen, die sich für ihren unsoliden Latin Lover aufopfert. Während die deutsche Kritik die deutsche Wertarbeit der Damrau preist, ist die italienische Kritik empört.

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Dass Verdi heute nach wie vor der weltweit meistgespielte Opernkomponist und Inbegriff der italienischen Oper ist, hat nicht nur mit seiner Produktivität zu tun, kein anderer Komponist ist auch quantitativ so stark im Opernrepertoire vertreten, sondern vor allem damit, dass er tatächlich ein bestimmtes Ideal dessen, was die Oper als Kunstform vermag, in seiner Zeit auf einen Nenner brachte wie kein zweiter.

Pragmatismus war sicher eines der Schlüsseltalente Verdis. Es liegt schon im Sujet der Oper, das ein aufwändiges Geschäft mit vielen Beteiligten und vielen Unabwägbarkeiten ist, dass dort die Pragmatiker - man denke auch an Händel, Mozart und Richard Strauss - am ehesten reüssieren. Komponisten, die ängstlich auf ihre ästhetische Integrität beharren, haben es in diesem Betrieb schwer. Man muss lernen mit dem Betrieb zu atmen, seine Unabwägbarkeiten produktiv zu nutzen statt sie verbissen abzuwehren. Doch gleichzeitig darf man einen gewissen ästhetischen Kern, eine Vision davon, was das große ganze ausstrahlen soll, nie aus dem Auge verlieren.

Verdi komponierte immer nüchtern beständig die Augen auf jenes Ziel gerichtet, sich immer bewusst, dass es nicht auf jeden einzelnen Moment ankommt, sondern nur einige wenige. Verdi konnte durchaus detailversessen sein an jenen Punkten, die er für entscheidend hielt, doch konnte er ebenso Arien oder ganze Akte verwerfen, wenn es pragmatisch geboten schien.

Wenn man in jedem Artikel liest, dass es Verdis Talent war schöne Melodien und Ohrwürmer zu schreiben, so ist das sicher nicht gänzlich falsch, aber eigentlich gar nicht wahr. Die Oper des 19. Jahrhunderts ist übervoll von schönen Melodien und Ohrwürmern. Verdi war in diesem Umfeld guter Durchschnitt aber auch nicht mehr.

Tatsächlich bleibt Verdi, der sich erst relativ spät professionell der Musik zuwandte (er wurde vom Mailänder Konservatorium abgelehnt, weil er zu alt war) immer ein Hauch von Steifigkeit. Das schlagend eingängige war zumindest zu Beginn oft auch Ausdruck gewisser handwerklicher Limitationen. Und weder als Melodiker noch als Harmoniker entwickelte er eigentlich je überdurchschnittliche Geschmeidigkeit oder außerordentliches Raffinement.

Paradoxerweise ist eben jene etwas grobe Robustheit von Verdis Musik ein wesentlicher Grund für sein triumphales Überleben im 20. Jahrhundert. Dass etwa Meyerbeers Stern, der der erfolgreichste Komponist des 19. Jahrhunderts war, so dramatisch sank, hat sicher mehrere Gründe. Ein wesentlicher ist aber gewiss, dass die Gesangsästhetik von trocken raffinierter Leichtigkeit und Lässigkeit, die Meyerbeer kultivierte, und die in den raffiniert konstruierten Libretti von Eugene Scribe eine perfekte Entsprechung fand, im 20. Jahrhundert nicht mehr en vogue war. Verdis Musik hingegen, der der italienischen Oper etwas von proletarischer Handfestigkeit und ironiefreier Popularität einhauchte, konnte mit diesen Ingredienzien auch im demokratischen 20. Jahrhundert einige Zeit überdauern.

Wie eigentlich alle großen Dramatiker hat Verdi in seinem Temperament etwas von fatalistisch objektiver Kühle, einen kalt illusionslosen Blick auf die Wirklichkeit. Auf Bildern sieht er eigentlich immer traurig drein wie ein moderner Hiob. Wenn man immer wieder liest, er sei leidenschaftlicher Patriot gewesen, so gehört das in den Bereich populärer Mythen. Parteilichkeit lag ihm nicht.

Sein Erfolg und sein Selbstbewusstsein verliehen ihm eine Aura von Autorität und Souveränität, die sich in Schlichtheit und Klarheit manifestiert und in ihrer lapidaren Direktheit manchmal an Beethoven erinnert. Beide konnten Geschwätzigkeit nicht ausstehen.

Was Szenen wie den Schluss von "La Traviata" oder den letzten Akt von "Otello" so erschütternd macht, ist gerade, dass er sich als Schöpfer nicht von sentimentaler Immersion hinreißen lässt, sondern mit einer durchaus distanzierten Empathie auf die Szene blickt.

Der neuralgische Punkt, an dem Interpretationen von Verdis Musik immer am stärksten bedroht sind, ist der von emotionaler Überfrachtung. Denn Verdi malt durchaus mit kräftigen Farben, lässt gerne Blech schmettern und das Becken krachen. Doch muss man dabei eben Verdis distanziertes Temperament in Rechnung nehmen. Dirigenten, die bei Verdi diese offenen Türen einrennen und so richtig auf den Putz hauen, verleihen Verdi schnell eine überdeutliche Vulgarität.

Überhaupt spielt der Dirigent bei Verdi eine große Rolle. Zwar stürzen sich die Opernchefs lieber auf Wagner, mit dessen Produktionen ein größer Distinktionsgewinn einhergeht, und überlassen Verdi gerne der zweiten Garde. Doch tatsächlich kann eine Wagner Oper bei einem soliden Kapellmeister viel eher befriedigen als eine Verdi Oper.

Bei Verdi, ähnlich wie auf dem Klavier bei Chopin, liegt zwischen mittelmäßigen und genialen Interpretationen ein gewaltiger Abgrund. In dieser individualistischen Belcanto Kultur spielen Bögen und Timing eine enorme Rolle. Es geht darum, in einem modernen Jargon gesprochen, die perfekte Welle zu erwischen. Findet man genau das richtige Tempo, schlägt man die Verzierungen und Passagen genau mit dem richtigen Effet an, erwischt man den Scheitelpunkt eines melodischen Bogens genau an der richtigen Stelle, erst dann hebt die Musik gewissermaßen ab. Entweder es gelingt oder eben nicht. Damit hängt auch zusammen, dass zweitklassige Verdi und Chopin Interpretationen besonders fade sind, während zweitklassige Wagner und Schumann Interpretationen durchaus befriedigen können.

In der Gesangskultur des Belcanto sind die Nuancen der Intonation (nicht im Sinne der korrekten Tonhöhe sondern im Sinne wie man den Ton ansprechen lässt) die Einfallstore der Individualität. Man erkennt die Callas nach nur wenigen Tönen nicht nur wegen ihres individuellen Stimmklangs, sondern in der völlig unverwechselbaren Art wie sie Töne intoniert.

Ein kluger Kommentator (leider entsinne ich mich nicht wer) hat mal geschrieben, künstlerische Individualität liegt nicht in dem, was man richtig macht, sondern in dem, was man falsch macht. Da ist durchaus etwas dran, denn die Callas macht so manches falsch. Nicht nur intoniert sie mit einem merkwürdigen undeutlichen Einschwingen, das gestrenge Gesangslehrer als unbedingt zu vermeidenden falschen Manierismus brandmarken, auch denkt sie nicht daran, die Register der Stimme ordentlich zu verblenden, sondern nutzt vielmehr den Registerwechsel als spezifisches Ausdruckselement. Doch liegt tatsächlich gerade in diesen "Fehlern" ihre Unverwechselbarkeit.

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In Bezug auf die beiden letzten Verdi Opern, mit Libretti von Arrigo Boito nach Shakespeare, "Otello" und "Falstaff", herrschen geteilte Auffassungen. Die einen halten sie für den Gipfel von Verdis Schaffen, die anderen für einen von falschen Ambitionen getriebenen Abstieg. Ich muss gestehen, dass ich zumindest beide Auffassungen nachvollziehen kann.

Der Siegeszug von Wagners Opern hatte nach seinem Tod 1883 epidemische Formen angenommen. Vor allem in Frankreich schrieben plötzlich alle Komponisten a la Wagner, doch auch in Italien hinterließ der Wagnerismus seine Spuren. Insbesondere Boito, der selber Komponist war, eiferte dem Wagnerischen Vorbild nach. Ungnädige Kritiker sahen in den beiden letzten Verdi Opern ebenfalls eine Kapitulation vor Wagner.

Auch wenn ein solches Urteil sicher aufs Ganze gesehen übertrieben ist, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass etwas von der schlagenden Klarheit seiner mittleren Opern im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Man spürt schon in Opern wie "Don Carlos" und "Simone Boccanegra" Verdis Versuch seinen Horizont zu erweitern und Elemente der französischen grand opera produktiv zu integrieren, allerdings auch hier nur mit gemischtem Erfolg. Persönlich habe ich gerade für diese beiden Opern ein besonderes Faible, trotz ihrer Defizite.

Mit "Otello" (und noch mehr mit "Falstaff") habe ich mich dagegen immer schwer getan. Zwar enthält die Oper einiges der schönsten Musik, die Verdi je geschrieben hat und einige Szenen zählen zu den beeindruckendsten Beispielen von Verdis dramatischem Genie. Doch fiel mir immer schwer von Shakespeares Vorlage zu abstrahieren.

Denn natürlich machen Verdi und Boito daraus eine bürgerliche Tragödie. Aus Desdemona wird jene bedingungslos sich aufopfernde Ehegattin des bürgerlichen Patriarchats. Und Otello erscheint wie ein Alfredo, bei dem alle Sicherungen durchgeknallt sind.

Überhaupt gibt es auch in Bezug auf die Dramaturgie der Opern "La Traviata" und "Otello" und ihrer Wirkung gewisse Ähnlichkeiten. Den festiven Charakter des ersten Akts, auch in Otello gibt es ein von Iago gesungenes Trinklied, den stillen zweiten Akt und dann die Eskalation im dritten Akt, schließlich das rührende Finale.

Doch irgendwas an der Konstruktion in "Otello" fühlt sich nicht richtig an. In einer kriminalistischen Studie war einmal zu lesen, dass Männer ihre Ehefrauen töten, wenn diese droht ihn zu verlassen, Frauen ihren Ehemann jedoch töten, um ihn los zu werden. Insofern entspricht "Carmen" der Regel, "Otello" jedoch nicht, denn Desdemona gibt nicht die geringsten Anzeichen, dass sie Otello verlassen wolle.

Bei Shakespeare ist die ganze Geschichte anders angelegt. Die eheliche Dynamik zwischen Othello und Desdemona hat bei Shakespeare wenig von der romantischen Verschmelzung, die sie Verdi im ersten Akt zeichnet. Zu exemplifizieren, was bei Shakespeare vorgeht, würde hier zu weit führen und soll bei anderer Gelegenheit genauer beleuchtet werden. Nur soviel: bei Shakespeare ist Desdemona nicht das Objekt der Eifersucht und Othello will Desdemona tatsächlich los werden.

Das Problem von Boitos Libretti ist, dass sie einerseits feinsinnig und klug sind, wie man auch der Korrespondenz zwischen Verdi und Boito entnehmen kann, doch am Ende immer ein wenig zu schlau und ein wenig zu offensichtlich in ihrer Mechanik. So ist das "Credo" des Jago zwar ein cleverer Einfall, um den Charakter Jagos zu beleuchten und dem Sänger des Jago eine wirkungsvolle Nummer zu verschaffen doch gleichzeitig hat die Nummer etwas überdeutliches, das unangenehm an B Movies erinnert, wo der Bösewicht Grimmassen schneiden muss, um seine Bosheit unter Beweis zu stellen.

Vor einigen Wochen kam eine Neuaufnahme von "Otello" mit Aleksandrs Antonenko, Krassimira Stoyanova , Carlo Guelfi unter der Leigung von Riccardo Muti mit dem Chicago Symphony Orchestra heraus. Der Befund ist ähnlich wie bei Thielemanns Ring, über den ich vor ein paar Monaten schrieb.

Orchester und Chor klingen hervorragend und Muti hat jenen Sinn für rhythmische Elastizität, der für diese Art von Musik essenziell ist. Die generelle Flüssigkeit, mit der er ohne jede Pomade durch die Partitur gleitet, wirkt überaus angenehm, ist lediglich manchmal von einem Hauch allzu widerstandslosen Routine bedroht.

Doch wie schon bei Wagner muss man auch hier bei Verdi in großes Wehklagen verfallen angesichts der völlig gesichtslosen Mittelmäßigkeit der Darsteller. Wie in Wien ist auch hier in Chicago ist das sängerische Niveau an und für sich durchaus nicht schlecht, doch sucht man vergebens nach irgendeiner Spur von individueller Ausstrahlung.

Nun neige ich nicht zur Verklärung der Vergangenheit. Placido Domingo, jahrzehntelange gewissermaßen der Otello vom Dienst, war durchaus kein idealer Otello, doch hatte er immerhin eine unverwechselbare Stimme und eine beachtliche Bühnenpräsenz. Man mag über den Erfolg des deutschen Tenors Jonas Kaufmann ein wenig erstaunt sein, ist er doch als Sänger nicht ganz erstklassig, doch verfügt er eben über ein gewisses individuelles Flair, das letztendlich doch viel mehr zählt und seinen Erfolg völlig rechtfertigt.

Als Otello triumphierten in der Vergangenheit am ehesten die Machismo Tenöre wie Mario del Monaco, Franco Corelli oder Jon Vickers. Als Übersprungshandlung eines testosterongesteuerten Macho mit mangelnder Impulskontrolle macht Verdis Otello noch am ehesten Sinn. Die postfeministische Tenöregeneration mit Pavarotti, Domingo und Carreras tat sich dagegen ganz generell mit Verdirollen schwer. Unverkennbar lag ihnen allen Puccini viel näher.

Die Destemona war in ihrer passiven Opferrolle dagegen schon immer die ideale Partie für Sängerinnen mit schöner Stimme aber limitierter schauspielerischer Begabung wie Mirella Freni oder Renata Tebaldi. Die Callas dagegen ging der Rolle aus dem Weg, die reine Opferrolle war ihre Sache nicht.

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"Falstaff" ist ein verwickelter Fall, der gerade deswegen interessant ist, weil er viel über kulturelle Codierungen und historische Missverständnisse erzählt.

Denn Verdis und Boitos "Falstaff" ist eine Montage. Der Anfang ist aus Shakespeares "Henry IV, part 1", der Rest aus "The Merry Wives of Windsor". "Henry IV" war, vor allem wegen der Figur des Falstaff, eines der erfolgreichsten Stücke zu Shakespeares Zeit während die "Merry Wives" schon damals eher ein Flop war und bis heute als eines der schwächsten Shakespeare Stücke gilt.

Die Legende erzählt, dass Königin Elisabeth selbst sich ein weiteres Stück mit Falstaff als Liebhaber wünschte und Shakespeare das Stück innerhalb von zwei Wochen schrieb. Was Kommentatoren bis heute irritiert, ist, dass der Falstaff der "Merry Wives" eine völlig andere Figur ist als sein Gegenstück in "Henry IV". Harold Bloom nennt ihn schlicht einen Hochstapler, der sich mit falschen Namen ausgibt. Was wahrscheinlich geschah, ist, dass Shakespeare kein neues Stück geschrieben hatte, sondern ein altes Stück reaktiviert und ins Falstaff Milieu verpflanzt hat.

Emsige Shakespeare Forscher haben schon lange herausgefunden, dass die Motive der "Merry Wives" aus der italienischen Novellistik stammen und das Stück auffällige Ähnlichkeiten mit Shakespeares frühesten Stücken "Comedy of Errors" und "Taming of the shrew" aufweist, die sich stark an der frühen italienischen Komödienkultur wie Machiavellis "Mandragola" orientieren.

Tatsächlich fühlt sich das Stück völlig anders und irgendwie plausibler an, wenn man es sich im italienischen Milieu vorstellt. Die Figur des Falstaff erscheint dann als Pendant zur widerspenstigen Katharina, die beide mit brutalen Maßnahmen zur raison gebracht werden. Im sonnigen Italien gleitet das farcenhafte auch nicht so leicht ins lächerliche ab. Denn dort ist die Temperatur der Temperamente immer ein paar Grad höher und es wird seit je her moralisch mit anderen Maßstäben gemessen, zumal zu Zeiten Machiavellis.

Der Falstaff aus "Henry IV" ist dagegen eine genuine Kreation Shakespeares und eine dezidiert zeitgenössische Figur, was sich eben auch am kommerziellen Erfolg ablesen lässt. Die Figur traf einen gewissen Nerv der Zeit. Denn über was die Leute lachen, sagt mindestens genauso viel aus über kulturelle Befindlichkeiten, wie über was sie weinen. Die Menschen sind vor allem dort kitzlig wo sie auch empfindlich sind.

Der gewaltige Erfolg von TV-Serien wie "Two and a half men" etwa besteht vor allem darin, dass die heiligen Grundsätze der modernen Leistungsgesellschaft - political correctness sowie ehrgeizig, fleißig, nüchtern, entscheidungsstark, verantwortungsbewusst, loyal und erfolgreich zu sein - konsequent unterlaufen werden.

Falstaff wiederum unterläuft in seinem Monolog über die Ehre (den auch Boito adaptiert) eben das, was das Allerheiligste der aristokratischen Kultur war. Zu Verdis Zeiten mag der Begriff der Ehre noch eine gewisse Halbwertszeit gehabt haben, doch für uns heute ist er völlig abstrakt geworden. An dieser Stelle sind wir nicht mehr kitzlig. Das wohl charakteristischste komische Genre des 19. Jahrhunderts war die Operette und, wen wunderts, sein bevorzugtes Milieu ist die frivole Halbwelt.

Das merkwürdige an Verdis und Boitos Falstaff ist, dass sie zwar einerseits die Farce der "Merry Wives" in die Heimat zurückholen, dass aber die Popularität dieses Stückes im 19. Jahrhundert, es gibt auch eine ebenfalls sehr erfolgreiche Oper von Otto Nicolai auf diesen Stoff, eigentlich noch stärker auf dem vermeintlichen englisch bürgerlichen Milieu beruht, in dem das Stück spielt.

Unter anderem durch Mendelssohns "Sommernachtstraum" hat sich im 19. Jahrhundert eine pittoreske romantische Vorstellung von Shakespeare in englischer Landschaft entwickelt (ungeachtet dessen, dass das Stück eigentlich in Athen spielt), an das vor allem die Waldszene aus "Merry Wives" unmittelbar anknüpft (sowohl bei Verdi als auch bei Nicolai kann man hier das Vorbild Mendelssohn auch heraushören).

Doch wurde eben auch die Thematik für das bürgerliche 19. Jahrhundert wieder aktuell. Es geht, natürlich, um Ehebruch. Der Charme der Konstellation ist, dass alle Beteiligten das Szenario des Ehebruchs in aller Offenheit durchspielen können, da Falstaff durch seine Physis zum neutralen Dummy im Spiel gemacht wird. Falstaff kann den totalen Macho spielen, die Frauen können ganz darauf eingehen, weil alle sich versichern können, dass alles ja nur gespielt ist.

Dadurch, dass Boito die beiden Falstaffs montiert, hat er das Problem der Heterogenität in die Oper hineingetragen. Der Falstaff vom Beginn ist jemand anderes als im Rest der Oper. Doch auch Verdi trägt einiges zur Verwirrung bei. Denn auch er fühlt sich, vielleicht von Boito angesteckt, dazu veranlasst neue Elemente hineinzumontieren. Auf der einen Seite sind gewisse Einflüsse von Wagner, namentlich den Meistersingern, unverkennbar, doch gleichzeitig gibt es eine merkwürdiges retrospektives Element (wie man es übrigens oft im Alterswerk von Komponisten antrifft). In der Ensemble Schreibweise knüpft Verdi viel weniger an sein eigenes Opernwerk als an Rossini an.

Auch die berühmte Schlussfuge ist einerseits ein origineller musikalisch Clou, doch hat sie gleichzeitig auch etwas artifiziell anmontiertes. Dramaturgisch problematisch ist, dass Falstaff nach all den Demütigungen eigentlich gar nicht in der autoritären Position ist, eine weise Bilanz anzustimmen. Das wäre etwa so als wenn statt Sachs Beckmesser die Schlussansprache hielte.

Musikalisch angeregt ist diese Fuge von verschiedenen Vorbildern. Zum einen Stand natürlich die Prügelfuge aus den Meistersingern Pate. Andererseits das kontrapunktische Finale der Jupitersinfonie und wahrscheinlich auch Fugen aus Rossinis geistlichen Werken.

Vergleicht man Verdis Fuge mit Mozart und Wagner, schneidet er nicht sehr günstig ab. Wie gesagt hat sich Verdi auf rein handwerklichem Gebiet ein beachtliches Niveau erarbeitet, das allerdings innerhalb gewisser Limits bleibt. Weder hat seine Fuge die atemberaubende ökonomische Präzision von Mozarts Bravourstück noch den Wagners Sinn für raffiniert sich steigernden Wirkungen.

So kopiert Verdi einen Effekt von Wagner, nämlich unvermittelt in eine terzverwandte Tonart hochzuschalten. Doch während bei Wagner das ein musikalischer Coup ist, der das Adrenalin hochschellen lässt, verpufft die Wirkung bei Verdi im allgemeinen Getümmel.

Tatsächlich scheint Verdi ästhetisch eher in Richtung von Rossini zu zielen. Der Reiz von Rossinis komödiantischen Ensembleszenen ist der von Geschwindigkeit, die sich allmählich zu einem unwiderstehlichen rauschhaften Taumel steigern können. Deutsche bauen eben Audis und Italiener Ferraris (und Fiats).

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Die oben angedeuteten historischen und nationalen Verwicklungen finden im "Falstaff" der Metropolitan Opera in New York in der Inszenierung von Robert Carsen (die bereits 2012 in London Premiere hatte) eine bemerkenswerte Fortsetzung.

Carsen verlegt die Szenerie ins England der 50er Jahre. Hatten Verdi und Boito das vermeintlich bürgerliche England um 1600 als Szenerie für ihre zeitgenössische Interpretation genutzt, transferiert Carsen die Oper nun tatsächlich in die Endphase europäischer Bürgerlichkeit. Vor allem das Englische Publikum wird die Vertrautheit des Ambientes besonders goutiert hat.

Wie oft bei modernen Inszenierungen, hatten die meisten der amüsanten humoristischen Gags und Einlagen nichts mit Verdi oder Boito zu tun sondern ergaben sich aus den Stereotypen des vertrauten lokalen Ambientes. Man gesteht es sich nur ungern ein, doch der Witz, der unmittelbar von Verdis und Boitos Oper ausging, war durchaus begrenzt.

In der Met Inszenierung mit einem rein amerikanischen Frauenquartett war leider gar nichts von der 50er Jahre Steifigkeit zu spüren, die im Grunde die letzte Chance gewesen wäre, dem Geist Verdis und Boitos noch irgendwie gerecht zu werden. Denn diese Steifigkeit, die das äußere Gewand von moralischer Rigidität ist, wäre das gewesen, was es zu unterwandern gilt. Stattdessen fühlte es sich mehr wie "Desperate Housewives" oder "Sex and the City" an, was den Damen verständlicherweise kulturell näher liegt.

Dieses Element des "woman bonding", das in Verdis Oper latent auch angelegt ist, war denn auch eine der Dinge, die am besten funktionierten. Die Damen betonten in den Pauseninterviews immer wieder wieviel "fun" sie hatten, und tatsächlich übertrug sich das auch auf das Publikum.

Die männlichen Nebenrollen schnitten weit schlechter ab. Was wohl die Schuld Boitos ist, denn die Montage des Personals aus "Henry IV", wo Bardolph und Pistol sidekicks von Falstaff sind, und "Merry Wives", wo sie commedia del arte Stereotypen sind, geht nicht zusammen. Zudem wird generell überagiert, was sich dann besonders künstlich ausnimmt, wenn die Figur selbst keine Erdung hat.

Das Glanzlicht dieser Inszenierung ist ohne Zweifel Ambrogio Maestri als Falstaff. Zwar fehlt ihm die Abgründigkeit für den echten Henry IV Falstaff, weswegen der Anfang wenig überzeugt, doch danach ist er vollkommen in seinem Element.

Tatsächlich ist es nicht nebensächlich, dass Falstaff fett ist. Man merkt das immer wieder, wenn gepolsterte schlanke Sänger Falstaff geben, dass das nie so recht überzeugt. "Vollschlanke" Menschen haben etwas weich gemütvolles, großzügig selbstzufriedenes, genießerisch in sich selbst ruhendes, das sich auch im Charakter manifestiert.

Das Gefühl allein aufgrund der eigenen Schwerkraft das Zentrum der Welt und damit im Recht gewisser Besitzansprüche zu sein ist auch bei beiden Falstaffs Shakespeares ein wesentliches Element. Kulinarische und erotische Besitzansprüche sind das rein sinnliche Element dessen. Beim "Henry IV" Falstaff geht dieses Gefühl jedoch weit darüber hinaus, hinein in ideologische und intellektuelle und kulturelle Bereiche. Für die aristokratische Elisabethanische Kultur, die in ihren dynastischen Elementen noch vollkommen von einer prädestinierten Vorstellung der Welt bestimmt ist, stellt dieser Charakter, der sich nicht um Recht, Rang, Würde und Ehre schert, eine ultimative Provokation dar.

Maestri, der auch im wirklichen Leben passionierter Hobbykoch ist, strahlt zumindest die Subversion der hedonistischen Elemente ganz wunderbar aus (dabei ist er, was die absolute Breite betrifft innerhalb des Ensembles gerade mal Durchschnitt). Oft kann man sich schon bei seinem Anblick ein Schmunzeln nicht verkneifen.

James Levine, der nach einer krankheitsbedingten Pause wieder von seinem fahrbaren Rollstuhl aus dirigierte, wurde lautstark gefeiert. Die Amerikaner lieben nun mal comebacks. Im Grunde gab es auch wenig auszusetzen. Die Ensembles liefen wie am Schnürchen und wie um die Zweifler an seinem Gesundheitszustand Lügen zu strafen, griff er beherzt zu.

Dass der musikalische Eindruck trotz allem irgendwie flau blieb, liegt meines Erachtens vor allem an der modernen Gesangs- und Orchesterkultur. Alles ist auf Sicherheit getrimmt und kommt immer ein Spur zu laut und zu massiv. Die Rossinische Leichtigkeit kommt einfach nicht recht auf. Es ist als ob man nur mit Automatik und Traktionskontrolle fährt. Das Ferrari Gefühl bleibt aus.

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Solange es noch Opernhäuser gibt wird Verdi sicher nicht von den Spielplänen verschwinden, ist sein Werk doch das Repertoirefundament auf dem die Opernkultur ruht. Auch sein dramatisches Genie, das einige archetypische Gestalten und Konstellationen geschaffen hat, die in die moderne Mythologie der abendländischen Kultur eingegangen sind, wird das Überleben seiner Opern sicher noch einige Zeit sichern.

Allerdings stehen Verdis Aktien im Moment nicht übermäßig hoch im Kurs. Ihre historischen Codierungen verfangen in der heutigen libertinären Gesellschaft nur noch rudimentär. Schlagzeilen machen mit Verdi Opern heute vor allem Regisseure, die ihre Sinnpotentiale gegen den Strich bürsten.

Die "Otello" Aufnahme mit Riccardo Muti erschien auf dem Label des Chicaco Symphony Orchestra CSO Resound.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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