Nächtliches Versinken

CD-Kritik Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker mit Rachmaninows "Die Glocken" und "Sinfonischen Tänzen".

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Es gab einen guten Grund, Rachmaninows selten zu hörende sinfonische Kantate "Die Glocken" aufs Programm zu setzen. Das Stück feiert, ebenso wie Strawinskys "Sacre du printemps", seinen 100sten Geburtstag.

Was einem in diesem Kontext sofort auffällt ist der Hypertrophismus als Zeitphänomen. "Sacre du printemps", Ravels "Daphnis et Chloe", Schönbergs "Gurrelieder", Mahlers 8. Sinfonie, Richard Strauss' "Alpensinfonie", was alle diese Stücke mit den "Glocken" gemein haben, ist, dass alle Komponisten in diesen Stücken einen Extrempunkt in Bezug auf die Orchesterbesetzung erreichen. Bei "Sacre" ist das einem am wenigsten bewusst, auch deshalb weil heute meist die deutlich abgespeckte spätere Fassung gespielt wird. Und bei Ravel und Rachmaninow ist die luxuriöse Ausstattung zwar hörbar, doch im Vergleich zu dem, was die deutsch-österreichischen Kollegen auffahren, noch bescheiden.

"Die Glocken" werden nicht ganz zu unrecht vernachlässigt, gelungen ist das Stück nicht wirklich. Man spürt darin etwas vom Versuch auf der Höhe der Zeit zu komponieren, der Mode mondän verfeinerter Luxuriösität gerecht zu werden. Es mag Rachmaninow geschmerzt haben, dass er, der in Diaghilevs allererster Paris Saison mit "russischen Konzerten" noch vertreten gewesen war, in der Folge von Diaghilev links liegengelassen wurde. "Die Glocken" scheinen sich, sicher auch durch die Zusammenarbeit mit Konstantin Balmont, der zum Diaghilev Zirkel gehörte, unbewusst der Diaghilevschen Ästhetik annähern zu wollen.

Tatsächlich passte Rachmaninow nicht in Diaghilevs Welt. Da ist eine ästhetische Kluft, die nicht zu leugnen ist, die wie wir sehen werden jedoch bedeutsam ist. Etwas von dieser Inkongruenz bildet sich in diesem Werk ab. Das vielleicht merkwürdigste an diesem Stück ist, dass es eigentlich nicht das ist, was es zu sein scheint. Denn ausgerechnet die naheliegendste Assoziation, dass es um russische Kirchenglocken geht, führt in die Irre. Die Gedichte, die hier vertont werden, sind von Edgar Allen Poe (in einer freien Übersetzung von Balmont), der sich auf die Glocken der Bronx bezieht.

Rachmaninow scheint sich nicht recht entscheiden zu können zwischen der amerikanischen lautmalerischen, atmosphärisch klaren Sachlichkeit Poes und der französisch beeinflussten symbolistischen Mehrdeutigkeit, die Balmont den Gedichten unterschiebt. Doch ist schon diese erste Berührung mit der amerikanischen Sphäre bezeichnend und zukunftsträchtig.

Als Rachmaninow 1917 emigrieren musste, hätte er sich nach dem Krieg ohne weiteres in Frankreich oder Deutschland niederlassen können. Er sprach gut Französisch und Deutsch und nicht zuletzt durch Diaghilev waren die Russen dort sehr gut vernetzt. Prokoffief etwa wählte diese Option und ließ sich für einige Zeit in Paris nieder.

Dass Rachmaninow stattdessen nach Amerika ging, mag gewiss auch ökonomische Gründe gehabt haben, doch scheint er auch gespürt zu haben, dass weder in der von Diaghilev geprägten französischen noch in der von Nietzscheanischem Größenwahn infizierten deutschen Musikwelt ein Platz für ihn war.

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Arnold Schönberg hatte zu jener Zeit selbstbewusst proklamiert, in 50 Jahren werden man seine Musik auf der Straße pfeifen. So kam es bekanntlich nicht. Doch fast noch erstaunlicher ist, was mit der Musik Rachmaninows geschah. Denn worüber sich die musikalische Welt im 20. Jahrhundert lange Zeit fast noch gewisser war als über den Siegeszug Schönbergs: dass Rachmaninow ein rückständiger Modekomponist ist, dessen Musik bald vergessen sein würde.

Arthur Rubinstein etwa machte keinen Hehl daraus, dass er Rachmaninow als Pianisten für bedeutender hielt als als Komponisten. Besonders in der deutschen Kulturelite galt es lange geradezu als Zeichen des Kennertums, über Rachmaninow die Nase zu rümpfen. Selbst der von mir hoch geschätzte Joachim Kaiser äußerte sich über Rachmaninow meist abfällig.

Dass Rachmaninow sich so triumphal durchgesetzt hat, hat durchaus seine Gründe, die hier etwas näher beleuchtet werden sollen. Denn wechselt man von einer deutsch-europäischen Bauchnabel-Perspektive zu einer globalen, kommt man zur paradoxen Feststellung: Rachmaninow war der modernste Komponist seiner Zeit und einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Denn rückblickend kann kein Zweifel bestehen, dass das 20. Jahrhundert das Amerikanische gewesen ist. Und was für Rachmaninow persönlich eine Katastrophe war, nämlich dass er nach der russischen Revolution 1917 Russland verlassen musste, war historisch gesehen eine für ihn günstige Konstellation.

Viele russischen Künstler emigrierten damals. Die Mehrzahl in das kulturell vertrautere westliche Europa. Amerika war kulturell noch Entwicklungsland und vielen Künstlern eher suspekt. Doch denjenigen, die das Risiko eingingen, sich dort niederzulassen, eröffneten sich Möglichkeiten, großen Einfluss auf das noch formbare kulturelle Leben zu nehmen.

So ist der Einfluss, den Rachmaninow und neben ihm vor allem Serge Koussevitzky, doch auch eine Schar von Orchestermusikern und Lehrern, die emigriert waren, auf das amerikanische Musikleben nahmen, kaum zu überschätzen. Obwohl Rachmaninow nach 1917 kaum noch komponierte sondern vor allem als Pianist auftrat, prägte er die amerikanische Musikkultur maßgeblich, viel stärker als einem so recht bewusst ist.

Rachmaninow wäre in den USA wahrscheinlich nicht so erfolgreich gewesen, wenn es in seiner Musik nicht gewisse Elemente gegeben hätte, die mit dem Lebensgefühl des aufstrebenden Amerikas kompatibel gewesen wären. Es sind Elemente von Pragmatismus, Effektivität, eines sachliches Understatement und einer exakten Geschmeidigkeit, die bei den Amerikanern auf fruchtbaren Boden fielen.

Auch wenn Rachmaninow nie Filmmusik schrieb, so sind doch die orchestralen Scores der ersten goldenen Hollywood Ära stilistisch von Rachmaninow stärker beeinflusst als von jedem anderen Komponisten. Von der federnden Motorik der gerne mit Schlagzeug gewürzten Blechbatterien bis zu den rührig hochfahrenden Streichern lassen sich noch bis in die heutige Filmmusik diese Einflüsse nachverfolgen.

Sicher hatte das auch seinen Preis, denn lange Zeit war einer der am häufigsten geäußerten Invektiven gegenüber Rachnaninoffs Musik, sie klänge wie Filmmusik. Selbst die Populärmusik eines George Gershwin oder Cole Porter hat sich von Rachmaninow nicht nur einige bittersüße Chromatismen abgeschaut sondern auch die lässige Coolness der Präsentation.

In den 20er und 30er Jahren war Rachmaninow in der USA legendär berühmt, zumal vor dem 2. Weltkrieg die Kluft zwischen Klassischer Musik und Populärmusik noch bei weitem nicht so groß war wie nach dem Weltkrieg. Ganz generell ist es insbesondere jene Ästhetik der Coolness, die Rachmaninow auch als Pianist verkörperte, die die amerikanische Kultur bis hin zu Humphrey Bogart und Frank Sinatra beeinflusste.

Virgil Thomsons im booklet zitiertes Verdikt über Rachmaninow, sein Werk sei "mainly an evocation of adolescence" und "no part of our intellectual life" enthält, wie es so oft bei Bosheiten der Fall ist, durchaus einen wahren Kern. Es ist unverkennbar ein starkes Element von Adoleszenz in Rachmnaninoff. Doch ist es eben auch dieses Element, was so gut mit der amerikanischen Kultur harmoniert, deren sprichwörtlicher Optimismus auch etwas von Jugend und naivem Pragmatismus hat.

Die Art von europäischem "intellectual life", die Thomson im Sinn hatte, war in Amerika im Grunde nie heimisch geworden. Amerikanischen Intellektuellen ist Nützlichkeitsdenken immer näher gestanden als europäisches l'art pour l'art. Die amerikanische Universitätskultur unterscheidet sich von der europäischen eben nicht nur in der Art der Finanzierung sondern eben auch in der Rolle der Studenten, die durch einen Mythos von utopischem Potential und Aspiranz viel mehr im Mittelpunkt stehen als in Europa.

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Eben diese Elemente bilden auch das Moderne an Rachmaninow, das er schon kultiviert hatte lange bevor er emigrierte. Blickt man mit dieser Perspektive zum Beispiel auf die Klavierwerke die zwischen 1900 und 1914 entstanden, darunter der für Rachmaninows Werk zentrale Zyklus der Préludes für Klavier, die Préludes von Debussy, die späteren Sonaten von Scriabin oder Schönbergs Klavierstücke, so sticht Rachmaninow unter gewissen Aspekten unverkennbar heraus.

Während Debussy, Scriabin und Schönberg sich ins Esoterische hochzüchten, stellt man bei Rachmaninow ein gegenteiliger Tendenz fest. Er legt das blumig salonhafte seiner früheren Produktion ab, um zu einer mehr sachlich schlichten Schreibweise zu finden. Das berühmte alla marcia Prélude in g-moll aus op. 23 etwa ist in seiner sachlichen Klarheit das schiere Gegenteil von dem, was Debussy, Scriabin und Schönberg zu dieser Zeit tun.

Nimmt man den Begriff der Moderne als die Richtung, die die Zukunft einschlagen wird, so war es wohl eher Rachmaninow, der richtig lag und der eigentliche Modernist seiner Zeit war. Das wiederum, was seinerseits als Moderne firmierte erscheint im Rückblick wie eine nekrophile Verlängerung der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Die harmonischen Grenzverschiebungen und Avanciertheiten waren eine Möglichkeit, an einer in ihrer inneren Morphologie alten Ästhetik festzuhalten. Boulez hatte ja vollkommen recht, als er bemerkte: zieht man bei Schönberg das harmonische ab, komponierte er eigentlich immer noch wie Brahms.

Mit dem Blick auf die ästhetische Morphologie offenbart sich auch, dass gerade die weit verbreitete Vorstellung von Rachmaninow als dem "letzten Romantiker" und einer aus dem 19. Jahrhundert überständigen Erscheinung ein paradoxes Missverständnis ist. Rachmaninow war einer der ersten Komponisten moderner Sachlichkeit und unter diesem Aspekt stehen sich sogar Rachmaninow und Strawinsky näher als Strawinsky und Schönberg. Etwa im Aspekt des technischen, wo beide, Strawinsky und Rachmaninow selbst bei völlig anders gearteter Ästhetik nach höchster Effektivität streben.

Mit dieser Effektivität hängt auch zusammen, dass der Komponist, der unter kompositionstechnischen Aspekten Rachmaninow am nächsten steht Johann Sebastian Bach ist. Manche mögen dabei ungläubig mit dem Kopf schütteln, doch untersucht man die kompositorische Faktur von Rachmaninows Musik, stellt man fest, dass diese im wesentlichen auf intervallischer Sukzession und Sequenzierung beruht, in einem Maße und einer Konsequenz wie sie sonst eben nur bei Bach vorkommt.

Dieses objektive und höchst pragmatische Verfahren sorgt ganz wesentlich für den inneren sachlichen Kern von Rachmaninows Musik. Und diesen Kern darf man nicht aus dem Auge verlieren, wenn es um die berühmt berüchtigte sinnliche Oberfläche seiner Musik geht. Arthur Rubinstein bringt die Problematik auf den Punkt wenn er feststellt, dass, wenn Rachmaninow seine Sachen selber spielte, man glaubte, nie sei besseres komponiert worden, erst wenn andere sie spielen offenbaren sie ihre "orientalische Schwüle".

Er formuliert darin im Grunde genau jenes ästhetische Missverständnis. Wenn man sie wie Musik des 19. Jahrhunderts spielt, wirkt die Sinnlichkeit hypertroph und mitunter unerträglich. Rachmaninows übertemperiertes Sentiment steht ästhetisch in einem Kontext. Denn der Reiz von Rachmaninows Ästhetik besteht tatsächlich im Aufeinandertreffen von heißem Sentiment und eisig sachlicher Kühle.

Sieht man Rachmaninow auf Bildern sieht man auch genau das. Spürt man bei Beethoven auch äußerlich auf Bildern jenes ungebändigte, das Goethe bei seiner persönlichen Begegnung feststellte, offenbart Rachmaninows berühmte militärische Kurzhaarfrisur und sein selbstbewusst neutraler Blick jene konzentrierte Sachlichkeit, die seinem Wesen entsprach.

Doch hinter Rachmaninows abweisenden Oberfläche und seiner legendären Unzugänglichkeit und Einsilbigkeit, die in vielen Anektoden überliefert ist, verbarg sich ein hypersensibler und hochprekärer Charakter. Er litt sein Leben lang unter Schüben von schweren Depressionen, die zeitweise zu völliger Apathie führten.

Jenes schwarz-depressive ist es aber vielleicht auch, was Rachmaninows Musik letztendlich seine Unverwechselbarkeit gibt. Das Dies Irae Motiv, das in Rachmaninows Spätwerk immer wiederkehrt ist wie eine Signatur jenes nachtschwarz apokalyptischen Fatalismus.

Da verwundert es auch kaum, dass die Programmatik der "Sinfonischen Tänze" die einer Immersion ins Nächtliche ist. Der erste Satz knüpft in gewisser Weise an den ersten Satz der "Glocken" an. Die Motivik ist von ähnlichen anapästischen Rhythmen geprägt. Doch ging es im ersten Satz der Glocken um eine jugendliche, von hellem Glöckchengebimmel begleitete Schlittenfahrt, knallen hier die Anapäste wie Hammerschläge auf einen ein. Nur die kurze C-Dur Coda wirkt wie ein wehmütiger Blick zurück auf die Jugend.

Der zweite Satz ist ein melancholischer Walzer, der sehr schlicht beginnt sich dann aber merkwürdig steigert. Der Satz wird immer dichter, doch die immer wildwüchsiger werdenden Stimmen haben nicht nur ornamentalen Charakter sondern wirken wie aufschäumende Wellen, die einen zu verschlingen drohen.

Der letzte Satz hat etwas von Höllenfahrt, nicht umsonst taucht mehrfach das Dies Irae auf wie überhaupt der Bezugspunkt dieser Stücke weniger die Ungarischen oder slawischen Tänze von Brahms oder Dvorak ist als Liszt Totentanz und Saint-Saens Dance macabre. Auch hier folgt eine Steigerungswelle der anderen, wie ein Sog, der einen immer weiter in die Tiefe reißt.

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Leider werde ich mit der Einspielung von Simon Rattle nicht recht warm. So fantastisch die Berliner Philharmoniker, Solisten und der Rundfunkchor Berlin klingen, alles läuft ein wenig zu gut am Schnürchen. Es fehlen Widerstände, Freiräume, irgendetwas, das das dem ganzen eine persönliche Note verleiht. Bei den "Sinfonischen Tänzen" meint Rattle, er könne die Stücke durch einige ertüftelte Temporückungen interessanter machen. Doch leider wirkt das gekünstelt und zerstört zudem den Sog-haften Charakter der Stücke.

Simon Rattle ist ungemein sympathisch und rein PR mäßig ist er gewiss ein Glücksfall für das Orchester und die Eventkultur der Stadt. Die Konzerte sind ausverkauft, man geht in der Vermarktung neue Wege, medial und image-mäßig steht das Orchester bestens da. Und vielleicht ist das auch alles, worauf es heute ankommt.

Die CD ist bei Warner Classics erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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