Über allen Gipfeln ist Ruh

CD-Kritik Igor Levit und Andras Schiff mit spätem Beethoven.

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Nach seinem phänomenalen Erfolg mit Bachs Goldberg Variationen schickte sich der junge Glenn Gould an sogleich einen weiteren Gipfel der Klavierliteratur zu besteigen. Seine nächste Aufnahme widmete sich den letzten drei Klaviersonaten Beethovens. Doch die Expedition schlug fehl. Wie so viele junge Gipfelstürmer nach ihm, die sich allzu früh an Beethovens Spätwerk versuchten, musste er feststellen, dass er gerade mal das Basislager erreicht hatte.

In diese Galerie reiht sich Igor Levit nahtlos ein. Und wenn er im Werbevideo zu seiner Aufnahme trotzig feststellt, dass Beethoven ein technisch so anspruchsvolles Werk wie die Hammerklaviersonate nicht geschrieben hätte, wenn er nicht gewollt hätte, dass junge Pianisten es spielen, dann offenbart er, dass er noch nicht mal weiß, in welcher Himmelsrichtung der Gipfel liegt.

Dass Levit Beethoven mit Liszt verwechselt, ist bezeichnend für eine junge, in Schulen und Wettbewerben aufgezogenen Generation von Instrumentalisten, bei denen sich die Profession des Künstlers merkwürdig der des Sportlers angleicht. Das ganze Marketing-Gerede rund um diese Aufnahme, von Gewichtsabnahme und dem bedingungslosen "8000%igen" Einsatz erinnert fatal an entsprechende Sportlerrhetorik. Als sei die physische und mentale Fitness das wichtigste bei der Beethoven Interpretation.

Tatsächlich scheint sich die klassische Musik dem Eiskunstlauf merkwürdig angenähert zu haben. Die Musikkritik verteilt heute vor allem Haltungsnoten. Wenn alles technisch tadellos ausgeführt ist und der Einsatz stimmt, gibt es volle Punktzahl. Die ominöse künstlerische B Note gibt es als Sternchen dazu, wenn der Rezensent ein wenig ergriffen ist.

Was die Haltungsnoten angeht, verdient die Aufnahme durchaus höchste Bewertungen und bekam sie reichlich von beflissenen Punktrichtern. Technisch ist sie makellos. Doch was mich beim Hören der Aufnahme enttäuscht, ja regelrecht ärgerlich machte, ist, dass sie nicht einmal der eigenen extremistische Marketing Rhetorik gerecht wird. Die Aufnahme ist völlig "middle of the road", von irgendwelchen extremen Ansätzen, wie sie etwa Gould, Gulda, Schnabel oder Richter (mit welchem Erfolg sei dahingestellt) zumindest riskieren, keine Spur. Selbst die extremen Tempi der Hammerklaviersonate, die Levit live im Konzert zumindest mit hoher Risikobereitschaft hinlegte, kommen hier domestiziert daher.

Es sind ganz offensichtlich schlechte Zeiten für Beethoven. Denn wenn es einen Komponisten gibt, bei dem es nicht um Haltungsnoten geht, dann ist es Beethoven. Seine Vernachlässigung des Äußeren, die in späteren Jahren nahe der Verwahrlosung war, doch auch das chaotische Erscheinungsbild seiner harsch hingekritzelten Manuskripte, zeigen jemanden, der sich nicht nur von der aristokratisch verfeinerten Perückenkultur absetzen wollte, sondern durch die Vernachlässigung von Äußerlichkeiten gerade emphatisch das Ideele seiner Kunst in den Vordergrund rückt.

Das Perfektionismusideal unserer Tage steht dazu in merkwürdigem Widerspruch. Ja man hat den Eindruck, dass je makelloser und perfekter eine Aufführung von Beethovens Musik ist, desto mehr verfehlt sie im Grunde den Geist dieser Musik. Denn in der mühelosen und exakten Bewältigung wird der ringende Impetus dieser Musik, die sich mit existenziellem Risiko in idealistische Utopien stürzt, gewissermaßen neutralisiert. Mit dem sportiven Einsatz, den Levit beschwört, hat das herzlich wenig zu tun.

Hinzu kommt noch die gewaltige Altersdiskrepanz, die im Falle Beethovens noch mehr ins Gewicht fällt als bei vielen anderen Komponisten. Der junge Beethoven hatte ja durchaus etwas von jener selbstbewussten hier-komm-ich Attitüde dieser übermütigen Jungpianisten, doch der späte Beethoven ist ein Gezeichneter. Die seelische Distanz, die er in seinem Leben zurückgelegt, ist gewaltig. Nur bei Shakespeare oder Tolstoi finden man einen ähnlichen Ambitus zwischen selbstbewusster jugendlicher Fülle des Frühwerks und apokalyptischer Depression im Spätwerk.

Levit nimmt alles viel zu wörtlich und direkt, klebt noch viel zu sehr an der Oberfläche. Es fehlt ihm (noch) vollkommen jeder Erfahrungsabstand und der Sinn für das selbstreflektive Hintergrundrauschen des späten Beethoven. Die Kopfsätze von op. 106 oder op. 111 wirken, ist man sich ihrer Abgründigkeit bewusst, in der jugendlichen Munterkeit und auftrumpfenden Virtuosität Levits einfach viel zu harmlos und streberhaft. Von den seelischen Abgründen der langsamen Sätze gar nicht zu reden.

Igor Levit ist enorm begabt und enorm selbstbewusst und ich habe keine Zweifel, dass er, wenn er erst ein passendes Objekt der Bewährung gefunden hat, großartiges zu leisten im Stande ist. Doch vorerst möchte man ihm empfehlen sich statt von Pfunden lieber von falscher Marketing Rhetorik zu trennen.

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Fast möchte man glauben, Beethoven habe sich von einem Aberglauben in die Macht der Zahlen leiten lassen, wenn man sieht, dass in seinen Klaviersonaten jenes ominöse Spätwerk genau bei der 100er Schwelle beginnt. Zwischen den Sonaten op. 90 und 101 (1814 bzw. 1816 entstanden) stehen nur knapp zwei Jahre und der Beginn von op. 101 scheint in seiner schwärmerischen Terzenseligkeit wie ein Fortsetzung des Schlusssatzes von op. 90. Und doch ist da eine Schwelle, eine neue Richtung, die Beethoven einschlägt. Das Rondo von op. 90 hat eine formale und ästhetische Geschlossenheit, die es von op. 101 an nicht mehr in dieser reinen Form geben wird.

Es scheint als ob sich Beethoven innerlich aus der Mitte der Gesellschaft verabschiedet um auf seiner eigenen inneren Insel fortzuleben und von dort Botschaften zu senden. Der Kopfsatz von op. 101, den Wagner sehr bewunderte und dessen synkopisches Pochen er auch für seinen Tristan produktiv adaptierte, hat einen improvisatorischen Zug, der über das hinausgeht, was er bereits früher, etwa in den "quasi una fantasia" Sonaten, selbst schon erprobt hatte. Die Musik kommt immer wieder sinnend fast zu Stillstand.

Vor allem vor dem Hintergrund von Beethovens phänomenalem Formbewusstsein, das er in seiner mittleren Phase mit exemplarischen Beispielen kultiviert und demonstriert hatte, wird einem bewusst wie Beethoven hier anfängt die Geschlossenheit der Form zu unterminieren. Am offensichtlichsten vielleicht im Fugato des Finalsatzes von op. 101. Fugierte Stellen gab es auch bei Beethoven schon früher, etwa im Rondo des 3. Klavierkonzerts oder dem langsamen Satz der Eroica. Doch was dort noch episodischen Charakter hat, bekommt in op. 101 plötzlich eine Eigendynamik, die eine disruptive Qualität gewinnt. Jemand, der Beethovens künstlerische Entwicklung auch chronologisch nachvollzieht, fragt sich an dieser Stelle unwillkürlich: holla, was war das denn?

Wie Beethoven hier das kontrapunktische behandelt, wie durch eine Häcksler gedreht, ist höchst merkwürdig und signifikant für die Ästhetik des Spätwerks. Von der Kohärenz und Identität stiftenden Kraft der Polyphonie, die historisch mit der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung verknüpft ist, bleibt bei Beethoven wenig übrig. Es ist ein blasphemischer Zug in Beethovens Behandlung der Polyphonie. Man muss unwillkürlich an Fichtes Vorstellung von der "Selbstsetzung" denken, wenn man sieht wie Beethoven hier die Polyphonie, und damit symbolisch die Weltordnung, seinem eigenen Willen unterwirft.

Das Moderne-gestählte Klassik-Publikum von heute ist gewohnt alles als Kunst-Gott-gegeben hinzunehmen und selbst Menschen, die mit Beethovens Musik vertraut sind, haben sich vielleicht schon zu sehr an diese Musik gewöhnt, um noch wahrzunehmen wie gewaltsam chaotisch die Fugen im Spätwerk und wie fremdartig die Variationen im zweiten Satz von op. 111 tatsächlich sind.

Beethovens Spätwerk umweht etwas kryptisch geheimnisvolles, das selbst einem eminenten Beethoven Kenner wie Adorno, der sich immer wieder intensiv damit beschäftigte, Kopfzerbrechen bereitete. Es ist voll von selbstmystifizierenden Zitaten und Andeutungen aus eigenen und fremden Werken, die hintersinnige Zusammenhänge herstellen, welche dem uninformiertem Hörer weitgehend verborgen bleiben. Doch ohne zumindest eine Ahnung davon zu haben, in welche Richtung sich Beethovens Assoziationen bewegen, bleiben die Werke im Grund unverständlich und langweilig.

Es ist da eine selbstreflektive Schicht, die selbst in den bekenntnishaftesten Momenten von außen auf sich selbst blicken zu scheint. Am explizitesten ist dieses selbstreflektive Element gewiss im Finale der 9. Sinfonie, wo Beethoven mit dem "nicht diese Töne" mit sich selbst konferiert oder im Finale der Hammerklaviersonate, wo sich Beethoven selbst beim Nachsinnen über die Schulter schaut.

Der späte Goethe sagte, er sei sich selber historisch geworden. So ging es wohl auch Beethoven, der ältere Werke oft als überwunden und abgelegt empfand und sie allenfalls als Steigbügel verwendet, um noch eine Stufe höher zu gelangen. So kann man im Kopfsatz der Hammerklaviersonate Anklänge an die Sonaten op. 22, von wo das selbstbewusste Terzenmotiv und die herrisch ausgreifenden Oktaven kommen, und die Les Adieux Sonate, mit dem daktylischen Motiv, das Assoziationen an Fanfaren oder galoppierende Pferde weckt, erkennen.

Was jedoch in den früheren Sonaten nicht vorkam sind die h-moll Passagen, die in der Hammerklaviersonate gewissermaßen vom fis-moll Adagio aus zurückstrahlen und das Stück in jenes selbstreflektive Zwielicht tauchen, das für das Spätwerk so typisch ist. Der Elan der Hammerklaviersonate ist ein gebrochener. Da stürmt nicht mehr ein junger Krieger aus Freude an der eigenen Kraft ins Feld sondern ein von Wunden und Niederlagen gezeichneter, der aus einem idealistischen Pflichtgefühl heraus nochmal alle Kräfte und alle Erfahrung mobilisiert, um eine letzte Schlacht zu schlagen.

Dass die ersten beiden Sätze der Hammerklaviersonate militärische Konnotationen haben, darauf weist nicht nur die Fanfaren und Signalmotivik. Auch dass das martialische "Laufet Brüder" im Finale der 9. Sinfonie und die ins Agnus Dei der Missa Solemnis einbrechende Militärmusik ebenfalls in B Dur stehen ist ein deutlicher Hinweis, zumal diese drei Werke in gewisser Weise innerlich zusammen gehören. In diesen drei Werken zog Beethoven die Summe dessen, was er im jeweiligen Genre vermochte.

Auch die berüchtigte Tempovorschrift des Kopfsatzes der Hammerklavier Sonate mag in diesem Kontext zu verstehen sein. Nun sind nahezu alle original überlieferten Metronomangaben (es gibt welche für alle Sinfonien und eine großen Teil der Streichquartette, jedoch nur für diese eine Klaviersonate) extrem schnell. Doch während sich in op. 106 das Tempo für die Fuge noch einigermaßen realisieren lässt, überschreitet das Tempo des ersten Satzes in diesem Kontext noch eine Grenze. Beethoven scheint den existenziellen Ausnahmezustand einer Schlacht, wie ihn etwa auch Tolstoi in “Krieg und Frieden” schildert, auch physisch fühlbar machen zu wollen.

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Auch wenn die Hammerklaviersonate, die 9. Sinfonie und die Missa solemnis Beethovens opera summa bilden, komponierte er danach weiter, schrieb noch drei weitere Klaviersonaten, skizzierte auch eine 10. Sinfonie. Doch man spürt in den letzten Sonaten eine Art Loslassen im Gefühl seine Pflicht getan zu haben.

Viele Stellen in den letzten drei Sonaten mit ihren Arpeggien, Trillern und flächig zerstäubenden Klavierpassagen sind nicht nur den Klangeigenschaften neuerer Klaviere geschuldet sondern auch Ausdruck jenes Gefühls des Loslassens. Adorno hat zweifellos recht, wenn er den letzten Satz von op. 111 als einen Abschied empfindet, wie in Thomas Manns Doktor Faustus zu lesen ist (die Beethoven Passagen sind alle inhaltlich von Adorno, Thomas Mann hatte selbst zu Beethoven eigentlich kein Verhältnis).

Während op. 109 und op. 110 wahrscheinlich amouröse Hintergründe hat, scheint es Beethoven in op. 111 nochmal um grundsätzlich ideeles zu gehen. Dass er nochmal zu c-moll zurückkehrt, die in gewisser Weise “seine” Tonart ist (auch statistisch), und die programmatischen Dualität von c-moll und C-Dur der 5. Sinfonie erneut aufnimmt, ist ein deutliches Zeichen. Es ist als ob Beethoven sich selbst sagen kann: ja, ich habe jenes Versprechen gehalten und mich nicht vom Schicksalsschlag der Taubheit aus der Bahn werfen lassen, habe trotz aller Widerstände ein Werk geschaffen, das seinesgleichen sucht.

Der erste Satz mag eine Reminiszenz an jene Lebenskämpfe sein, die Beethoven auszustehen hatte. Bemerkenswert ist die Bezeichnung des Allegro, die nicht nur “Allegro con brio” (wie in der 5. Sinfonie) lautet sondern den der Zusatz “ed appassionato” enthält. Sonderbarerweise wird ausgerechnet dieses Allegro meist professoral gemäßigt gespielt, wohl wegen der polyphon gehaltenen Faktur, die ein wenig an Bach oder Händel erinnert. Nimmt man die Tempi der Hammerklaviersonate als Maßstab, müssten hier eigentlich wilde Stürme toben.

Vieles am zweiten Satz deutet auf Auflösung. Schon das “molto semplice” signalisiert ein Abwerfen von Ballast. Nach dem vielen espressivo und con brio soll hier Schluss sein mit der emphatischen Aufladung. Die Dinge sollen von selbst ihren Lauf nehmen. Das morphologisch besondere an diesem Stück ist weniger das Prinzip der Temposteigerung an sich, das von jeher ein Element der Variationsdramaturgie war, sondern der fast biologisch evolutionäre Prozess, in dem er sich vollzieht. Wie bei einer Zellteilung scheint sich die musikalische Struktur aufzufächern und auf ihrem Höhepunkt zu kollabieren. Die zweite Hälfte wiederum erinnert nicht von ungefähr an Wasser- und Luftmusiken von Liszt (wie die beiden Franziskuslegenden) oder sogar Debussy und Ravel. Es ist ein Loslassen und Zurücksinken ins Naturelementare.

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Anders als Igor Levit hat sich András Schiff mit seinem Aufstieg zu den Gipfeln Beethovens viel Zeit gelassen. Erst jenseits der 50 hat er damit begonnen die Beethovensonaten öffentlich zu spielen und aufzunehmen. Die beeindruckend intelligenten Gespräche mit Martin Meyer über die Klaviersonaten zeigen wie intensiv er sich mit Beethoven beschäftigt hat und wie intim er mit Beethovens Welt geworden ist.

Die Einspielung der “Diabelli-Variationen” ist gewissermaßen der Schlussstein in seiner Beschäftigung mit Beethoven. Wie diese Einspielung gestaltet ist, offenbart bereits vieles über den Reflexionsgrad, mit dem Schiff Beethoven begegnet. Allein dass er die Diabelli-Variationen mit der Sonate op. 111 und den Bagatellen op. 126 kombiniert, bedeutet mehr als dass hier die letzten Klavierwerke Beethovens enzyklopädisch versammelt werden.

Diese Werke gehören zusammen, nicht nur wegen der thematischen Ähnlichkeit zwischen dem Thema der Diabelli-Variationen und dem zweiten Satz von op. 111. Die Diabelli-Variationen knüpfen einerseits nochmal an die großangelegte Form von op. 111 an, und weisen gleichzeitig in Richtung einer neuen zeitgenössischen Ästhetik kondensierter kleiner Formen wie in jenen Bagatellen op. 126.

Beethoven nahm ja durchaus wahr, dass da mit Leuten wie Schubert eine neue Welt aufzog und es ist bezeichnend, dass die allerletzten Klavierstücke aus Beethovens Hand Walzer und Ecossaisen sind, also jene Genres, mit denen Schubert zu dieser Zeit sehr erfolgreich war.

Auch die Diabelli-Variationen, auf einen Walzer des Verlegers Anton Diabelli, sind, unter vielem anderem, eine Auseinandersetzung mit etwas neuem und fremdem, das in Beethovens Werk vorher praktisch keine Rolle gespielt hat. In einigen Variationen sind es unverkennbar die rhythmischen und metrischen Charakteristika des Walzers, die Beethovens Interesse produktiv herausgefordert haben. Ich habe an anderer Stelle bereits ausführlicher über die Diabelli-Variationen geschrieben, auf die ich bei dieser Gelegenheit verweise.

Der andere Aspekt, den Andras Schiff in seiner Einspielung beleuchtet, ist die Rezeptionsdimension. Schiff spielt die Diabelli-Variationen auf einem Hammerflügel der Beethovenzeit und dann nochmal auf einem Bechstein der 1920er Jahre, was wohl als Referenz an große Beethoven Interpreten wie Wilhelm Backhaus und Arthur Schnabel zu verstehen ist, aber auch Instrumenten-historisch interessant ist, da der Bechstein tatsächlich klanglich etwa in der Mitte zwischen Hammerflügel und modernen Instrumenten liegt.

Andras Schiff nähert sich Beethoven mit unzweifelhafter Kompetenz und er hat sich im Laufe der Jahre, wohl nicht zuletzt durch seine intensive Beschäftigung mit Bach, eine Transparenz und Dissoziationsfähigkeit am Klavier erarbeitet, die im Moment wohl ohne Vergleich ist. Alles kommt nicht nur kristallinklar sondern auch in seinen Maserungen und Verästelungen organisch lebendig heraus.

Auch agiert er mit einer Ökonomie und einem Weitblick, die eben nur durch lange Erfahrung zu gewinnen sind. Er muss eben nicht in jedem Takt mit dem Zaunpfahl winken um zu demonstrieren, dass er jetzt "interpretiert". Er lässt die Dinge von selber entstehen und setzt nur gelegentlich mal ein Ausrufezeichen.

Doch bei aller unbezweifelbarer Meisterschaft, mit der Schiff zu Werke geht, bleibt bei Schiffs Beethoven ein weißer Fleck. Schiff hat bei seinem Aufstieg gewissermaßen einen idealen Standort für einen Panoramablick auf Beethovens Gipfel gefunden. Doch die letzten Meter geht er nicht, er macht sich die Hände nicht schmutzig oder gar blutig. Arthur Rubinstein hatte durchaus den richtigen Instinkt als er einmal sagte, eine Beethoven Interpretation sei nichts rechtes, wenn man nicht auch ein paar Tropfen Blut dabei schwitzt.

Für Beethoven, will man ihn wirklich vollkommen ernst nehmen, muss man den Mut haben, Wunden zu zeigen. Wenn Beethoven in der Sonate op. 110 das "Es ist vollbracht" aus Bachs Johannespassion zitiert ist das nicht nur eine Hommage an Bach sondern geht viel weiter. Es ist eine, nicht zufällig an Nietzsche erinnernde, Selbstmystifikation als Christus Gestalt. Wer dabei ungläubig mit dem Kopf schüttelt, der hat nicht verstanden, wie weit Beethoven sich in die kahlen und gefährlichen Gipfeln der letzten Dinge vorgewagt hat.

Igor Levit / Beethoven: The late Piano Sonatas (2-CD Set) (Sony Classical)

Andras Schiff / Beethoven: Diabelli-Variationen (2-CD Set) (ECM Records)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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