Porträt Eva Becker kann sich für Abfall richtig begeistern. Die Müll-Archäologin ist überzeugt: Weggeworfene Dinge verraten uns mehr über Menschen als viele Umfragen
Es herrscht Eiseskälte, kein Wetter für ausgedehnte Spaziergänge. Die Müll-Archäologin Eva Becker ist trotzdem unterwegs. In dicken Mänteln und mit Wollmützen streifen wir nachmittags zwei Stunden auf den Spuren der Wegwerfgesellschaft durch Berlin. Alle paar Meter werden wir fündig: leere Spirituosenflaschen, Fernseh-Skelette, Verpackungen und unzählige Pappbecher, die in Fahrradkörben, auf Fensterbänken und Bürgersteigen entsorgt worden sind.
Der Freitag: Frau Becker, wir haben in den vergangenen zehn Minuten viele herrenlose Einkaufswagen gesehen. Gehören die zum alltäglichen Müllbild in Berlin?
Eva Becker: Nein, ich wundere mich selbst, warum die gerade so gehäuft auftauchen. Ich nehme an, dass die Leute die
ere mich selbst, warum die gerade so gehäuft auftauchen. Ich nehme an, dass die Leute die Einkaufswagen benutzt haben, um ihre Weihnachtsbäume zu transportieren und zu entsorgen.Weihnachtsbäume am Straßenrand zu entsorgen, ist erwünscht. Das übrige Wegwerfverhalten nicht. Warum legen die Leute ein Brötchen auf einen Stromkasten oder arrangieren leere Flaschen dekorativ auf Fensterbänken?Ich nenne das spaßeshalber Großstadtaltäre. Seit ich vor anderthalb Jahren angefangen habe, Müll für mein Blog zu fotografieren, frage ich mich, warum Leute ihre Hinterlassenschaften so exponiert zur Schau stellen. Eine Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden. Aber mein Blog soll auch nicht mit erhobenem Zeigefinger auftreten. Vielmehr wünsche ich mir, dass die Leute anfangen, sich ein paar Gedanken zu machen.Wie wird man Müll-Archäologin?In Deutschland gibt es Müll-Archäologie eigentlich gar nicht. Ich bin in dem Roman Nikolski von Nicolas Dickner über den Begriff gestolpert, in dem einer der Protagonisten Müll-Archäologe ist. Weil ich ja selbst von Beruf Archäologin bin, hat mich das interessiert. So bin ich dann auf den Begriff Garbologie gestoßen und habe erfahren, dass es eine in den Siebzigern in den USA begründete Wissenschaft ist. In Deutschland wird die Gar-bologie bisher aber als „Kaugummi-Archäologie“ belächelt. Ich kenne hier auch sonst niemanden, der Müll-Archäologe ist.Was reizt Sie daran, Abfall zu untersuchen?Als Archäologin wühle ich auch im Müll der Vergangenheit. Der verrät mir etwas über das Verhalten und die Kultur der Menschen früher. Wo bitte ist der Unterschied, den Müll von vor 3.000 Jahren auszugraben, oder sich mit dem von gestern zu beschäftigen? Beim Müll von gestern brauche ich jedenfalls den Boden nicht aufzugraben. Dafür erfahre ich ganz konkret etwas über die Menschen der Gegenwart und ihr Konsumverhalten.Und was erzählt der Müll von heute über uns?Wenn ich im Sommer in den Parks die Kronkorken aufsammele, kann ich zum Beispiel erkennen, was die Leute getrunken haben. Ob viele alkoholische Getränke getrunken wurden und wenn ja, welche. Man sieht auch Getränkemoden, zum Beispiel die Bio-Getränke, die seit einigen Jahren populär sind. Und in Kreuzberg und Neukölln findet man viele Kronkorken mit einem Stern drauf. Das sind Bierflaschen vom Discounter. Die wird man eher nicht in Zehlendorf finden.Trotzdem erkenne ich keinen direkten Zusammenhang zur Archäologie ...Das Archäologische ist – und die US-Wissenschaftler machen das auch so –, dass ich mir zwei, drei Straßen vornehme, mir einen Plan mache und alles genau kartiere. Ich würde dann jede Zigaretten-kippe aufnehmen. Die Amerikaner haben das mal an der Ausfahrt einer Autobahn gemacht. Dort lagen Massen an Getränkedosen, dann kam irgendwann ein Hügel und dahinter lagen viele benutzte Kon-dome. Die liegen eigentlich nie auf der Straße rum, die findet man eher in Parks. Daher spielt die Topographie eine so große Rolle. Als Archäologin ziehe ich anhand von Fundstücken Rückschlüsse auf das Verhalten der Menschen. Wie alt die Artefakte sind, spielt dabei eigentlich keine Rolle.Wem könnte dieses Wissen nützen?Stadtplanern und Marketingleuten, die sich Gedanken machen, welche Klientel wo wohnt. Wenn man etwas über die Leute in einem Kiez wissen will, dann erfährt man durch den Müll viel mehr über die Menschen als zum Beispiel über Umfragen. In den USA wurden Haushalte nach ihrem Ernährungsverhalten befragt. Die meisten erklärten, sehr viel Obst und Gemüse zu essen. Im Müll fand man aber vor allem Verpackungen von Fertiggerichten und Fastfood-Produkten.Für Archäologen ist der Geruch von Erde nicht unangenehm, für Müll-Archäologen aber sicher doch derjenige von Müllkippen?Um ehrlich zu sein: Ich würde wahnsinnig gerne mal eine Mülldeponie durchwühlen. Wenn ich manchmal einen Mülleimer sehe, würde ich ihn gern umkippen und gucken, was die Leute da alles weggeworfen haben.Aber Sie können den Müll ja gar nicht zuordnen, wenn Sie sich durch eine Deponie wühlen.Doch. Sie hätten etwa zu DDR-Zeiten definitiv einen Unterschied festgestellt. Die Ostberliner hatten diese Billigkohle, die stark mit Sand vermischt war. Die Westberliner dagegen haben ihren ganzen Sondermüll in den Osten gebracht. Wenn ich einen Querschnitt durch den Müllberg mache, erkenne ich an den Schichten, zu welcher Zeit welcher Müll produziert wurde. So wie an Erdschichten erkennbar ist, ob sie aus der Stein-, Bronze- oder Eisenzeit stammen, kann man erkennen, dass wir heute wohl in der Plastikzeit leben. Je tiefer man im Querschnitt kommt, desto größer wird der Anteil an Kohleasche, der in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen ist. Es gibt ja nur noch wenige Haushalte, die mit Kohle heizen.Könnten Sie den Müll im Hinterhof Ihren Nachbarn zuordnen?Absolut. Interessant ist dabei aber auch, dass anscheinend viele Leute nicht wollen, dass andere ihren Müll sehen. Eine große Mülltonne könnte zum Beispiel besser ausgefüllt werden, wenn jeder seinen eigenen Beutel darin ausleeren würde, statt ihn im Beutel hineinzuwerfen. Das macht aber fast keiner. Es ist schon merkwürdig, dass wir unseren Müll zu Hause eher verstecken, aber auf der Straße einfach hinwerfen.Genau das zeigen Sie in Ihrem Blog: Fotos von Müll, der auf der Straße liegt. Was finden Sie dort am häufigsten?Pappbecher. Überhaupt alle Verpackungen, die „to go“ sind. Mein Mann sagt immer: „Warum machst du denn das Foto? Du hast doch schon so viele Pappbecher fotografiert.“ Aber ich finde jeden einzelnen interessant. Vielleicht entsteht aus den Bildern irgendwann ein Kaleidoskop des Berliner Mülls.Was entsorgen die Leute noch?Möbel werden oft an den Straßenrand gestellt. Kein Wunder, denn die Berliner können ihren Sperrmüll nur gegen Gebühr abholen lassen. Und zum Recyclinghof müssen die Möbel ja erstmal kommen. Wie transportiere ich eine Matratze, wenn ich kein Auto habe? In der S-Bahn?Gibt es auch etwas richtig Kurioses, das Sie gefunden haben?Spannend war der Fund eines hinduistischen Steinreliefs. Später las ich in dem Zeitschriftenartikel eines Autors, der das Relief auch gesehen hatte, dass es sich um ein in Indien sehr populäres Bildnis der Uma-Mahesvara, des göttlichen Paares, handelte. Wie und warum es nun in Berlin auf der Straße lag, wusste der Autor aber auch nicht.Würden Sie sagen, dass das „Littering“, also die Vermüllung unserer Städte, zunimmt?Nein, das bleibt konstant. Es hängt eher von den Jahreszeiten oder besonderen Ereignissen ab. An Silvester zum Beispiel sind auffallend viele Mülleimer geknackt worden. Die Böden unten werden aufgebrochen, sodass der ganze Müll rausfiel. Ich will niemanden beschuldigen, aber die Pfand-sammler waren wohl etwas im Rausch.Für die muss sich ein Tag wie Silvester ohnehin lohnen ...Oh ja, ich kam am Silvesterabend von einem Konzert und bin durch den Tiergarten gegangen, wo sich alljährlich die Massen treffen, um die große Party zu feiern. Vor Betreten des Geländes wurden allen Besuchern die Glasflaschen abgenommen. So standen massenweise Pfand- und Einwegflaschen an den Absperrungen. Am nächsten Morgen bin ich extra früh aufgestanden, um zu gucken, was davon noch da ist. Alle, aber wirklich alle Pfandflaschen waren weg. Auf dem Rückweg kam mir noch ein einzelner Pfandsammler entgegen. Dem musste ich leider sagen, dass er zu spät dran war.Welches Müllproblem ärgert Sie selbst am meisten?Sie ärgern mich eigentlich alle nicht. Ich finde es vor allem spannend zu sehen: Da steht wieder ein Regenschirm oder dort steht ein Sessel. Und manche Dinge liebe ich, etwa Matratzen. Die sieht man wirklich sehr häufig auf der Straße. Es gibt sogar ein Buch über die Müllmatratzen in New York.Warum mögen Sie ausgerechnet Matratzen so gern?Sie sind sehr private, wenn nicht sogar intime Gegenstände. Ich überlege manchmal, ob der ehemalige Besitzer der Matratze auf ihr einen erholsamen Schlaf hatte. Spannend ist es auch, wenn eine Doppelbettmatratze oder zwei Einzelmatratzen auf der Straße stehen. Ist da eine Beziehung beendet worden? Die Matratzen zeugen von einer Zweisamkeit, die so vielleicht nicht mehr existiert.Möchten Sie mit Ihren Müllgeschichten die Leute dazu bringen, weniger Müll zu produzieren?Müllvermeidung finde ich schon wichtig. Da lege ich mich regelmäßig mit Verkäuferinnen an. Wenn sie an der Fleischtheke eine Wurst trotz Pelle in Papier einwickeln und anschließend noch in eine Tüte, an die dann der Bon getackert wird. Am besten noch mit einem Papptablett drunter.Also doch ein Müllproblem, das Sie ärgert. Ich finde es ja besonders nervig, Müll aus dem eigenen Fahrradkorb zu fischen.Das kenne ich auch. Ich kam vor einiger Zeit mit einer Freundin zurück zu ihrem Rad, das nur eineinhalb Stunden auf der Straße gestanden hatte, aber der Korb war voll Müll. Seitdem haben wir uns vorgenommen, das Rad mal am Brandenburger Tor abzustellen und uns auf die Lauer zu legen, um zu beobachten, wer dort was in den Korb wirft. Ich frage mich, was das eigentlich für ein Denken ist: „Hier bitte, mein Müll. Sieh zu, wie du den los wirst.“Sie machen auch Müllworkshops mit Schülern, bei denen Sie gemeinsam das Weggeworfene analysieren. Glauben Sie, dass die nächste Generation verantwortungsvoller mit Müll umgeht?Müllvermeidung ist da ein großes Thema. Wir überlegen etwa zusammen, wie wir weggeworfene Dinge wiederverwenden können. Kinder sind ungeheuer kreativ. Als ich das Projekt neulich an einer Schule vorstellte, hatte der Direktor allerdings gleich Bedenken, dass die Kinder ihren Eltern wegen deren Müllverhalten auf die Nerven gehen.Was machen Sie noch mit den Kindern?Sie bringen ihren eigenen Hausmüll mit, den wir durchforsten, um zu gucken, was sie am Wochenende gegessen haben oder aus welchem Material die Abfälle bestehen. Dann überlegen wir uns, wie wir Müll vermeiden können. Indem wir zum Beispiel Milch in Flaschen kaufen oder statt einer Plastiktüte eine Stofftasche benutzen. Schließlich basteln die Kinder aus Müll kleine Kunstwerke, die anschließend ausgestellt werden.Haben Sie noch ähnliche Projekte?Leider noch nicht umgesetzt, aber ich würde wahnsinnig gern mal einen Trashmob veranstalten. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie das aussehen soll. Aber es wäre toll, eine Gruppe von Leuten zu haben, einem Flashmob gleich, die zu Weihnachten oder Ostern den Hauptbahnhof abgrasen und dann mit dem gefundenen Müll einen riesigen Tannenbaum schmücken oder ein Osterei füllen.Können Sie sich eigentlich selbst leicht von Dingen trennen?Ja, eigentlich schon.Was würden Sie nie wegwerfen?Ich hänge an meinen Büchern und habe eindeutig zu viele davon. Zuletzt standen sie in Dreierreihen in meinem Regal. Aber ich kann sie nicht wegwerfen. Also lasse ich hin und wieder ein Buch in der U-Bahn liegen, damit sich jemand anderes darüber freut. In Charlottenburg gibt es außerdem eine alte Telefonzelle, die zu einem Büchertauschplatz umfunktioniert wurde. Das finde ich gut. Wir brauchen mehr solcher Ideen, die unsere Müllberge reduzieren.Das Gespräch führte Verena Reygers
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