Der Legende nach löste schon Malu Dreyers Berufung 2002 im rheinland-pfälzischen Sozialministerium wahre Jubelschreie aus. Das lag womöglich weniger an der SPD-Politikerin selbst, die damals aus dem Mainzer Jugendreferat in die Landespolitik wechselte, als an ihrem Vorgänger Florian Gerster. Denn der galt als ehrgeizig und eitel, sich stets zu Höherem berufen fühlend, und als er dann endlich als Krisenmanager zur Bundesanstalt für Arbeit weggelobt wurde, sollen ihm aus seinem Ministerium nicht nur Segenswünsche hinterhergeeilt sein.
Sinnigerweise stürzte Gerster bei der BA nur knapp zwei Jahre später über eine undurchsichtige Affäre um millionenschwere Beraterverträge. Für Malu Dreyer dagegen begann tatsächlich ein H
lich ein Höhenflug – wenn das Bild für eine bodenständige Politikerin überhaupt passt. Es begann jedenfalls eine durchaus ungewöhnliche politische Karriere, die die 51-Jährige nun als Nachfolgerin des angeschlagenen Dauerministerpräsidenten Kurt Beck in die Mainzer Staatskanzlei führen soll.Euphorisches WohlwollenAuch dabei begleitet die Lehrerstochter aus Neustadt an der Weinstraße eine Art euphorisches Wohlwollen. Sozialdemokraten feiern die Juristin, die erst mit 34 Jahren in die SPD eintrat, als „Königin der Herzen“, als kompetent, charmant, volksnah, mit gewinnendem Wesen. Die grüne Koalitionspartnerin Eveline Lemke freut sich: „Ich bin fest überzeugt, sie wird das klasse machen. Sie ist auch eigentlich unser heimlicher Wunschkandidat gewesen.“ Selbst bei der Konkurrenz ist kaum Kritik zu hören. Der sonst so bissigen CDU-Oppositionsführerin Julia Klöckner hat es die Sprache verschlagen. Und der FDP-Sozialpolitiker Heinrich Kolb, der Dreyer aus dem Vermittlungsausschuss in Berlin kennt, räumt ein: „Sie ist einfach eine angenehme Person. Sie weiß, was sie will, aber sie ist nicht ideologisch. Man weiß bei ihr, woran man ist.“So viel Lob ist selten im politischen Hauen und Stechen, schon gar in Berlin. Vielleicht ist das politische Klima etwas milder im beschaulichen Mainz, wo Kurt Beck 18 Jahre lang als provinzieller Patriarch Furore machte und selbstzufrieden mal mit der FDP, mal mit den Grünen regierte. Vielleicht ziehen auch Dreyers politische Erfolge. Unter Druck geriet sie nur ein einziges Mal, wegen eines Mordes in einem Jugendheim 2003. Nach zehn Jahren Amtszeit kann die Sozialministerin auf eine Arbeitslosenquote von nur 5,1 Prozent verweisen. Dreyer gilt als detailgenau und sachorientiert, offen und entscheidungsfreudig. Und doch geht es hier nicht nur um Konzepte und Programme, die Sympathie gilt vor allem der Person. „Vielleicht ist es diese ungewöhnliche Mischung aus physischer Zerbrechlichkeit und Willensstärke, die ihr diese Aura verleiht“, sagt einer, der Dreyer lange kennt.Die Ministerin leidet seit zwei Jahrzehnten an Multipler Sklerose. 2006, da war sie schon vier Jahre im Amt, machte sie das selbst öffentlich, als man ihre Schwierigkeiten beim Laufen schon erahnte. Zuletzt sah man sie bisweilen im Rollstuhl. Als im Frühjahr die Spekulationen über Becks Nachfolge losgingen, hieß es noch, Dreyer wäre eine fast ideale Kandidatin – wenn nur ihre chronische Krankheit nicht wäre. Nun ist sie es trotzdem geworden.Angespannt sieht sie aus, als sie am Freitagabend langsam am Arm einer Kollegin mit Beck zur Pressekonferenz in der Staatskanzlei schreitet. Der Ministerpräsident selbst wirkt tief deprimiert, dass er mitten in der Affäre um das Pleiteprojekt Nürburgring nun doch das Feld räumen muss – wo er doch im Sommer noch trotzig behauptet hat, er werde bis zur Wahl 2016 bleiben. Er spricht mit schleppender Stimme von seinen Gesundheitsproblemen, von „recht ernsten“ Schwierigkeiten mit der Bauchspeicheldrüse und seinem Selbstverständnis, sein Amt nur ganz oder gar nicht auszufüllen.Dreyer, nur sehr dezent geschminkt, in dunklem Oberteil und Blazer, blickt immer wieder ernst zu Beck herüber. Man nimmt ihr das Mitgefühl ab und auch die Selbsterkenntnis, dass sie sich eine Bürde aufhalst. „Kurt Beck hat für einen Mann recht kleine Füße“, versucht sie einen Scherz. „Aber wenn ich an die Fußstapfen denke, die er hinterlässt, habe ich doch richtig Herzklopfen.“ Und dann kommt sie zum Punkt: „Ich fühle mich gesund, und ich spreche das ganz bewusst an, weil ich nicht möchte, dass meine Gesundheit beziehungsweise meine eingeschränkte Mobilität irgendwann mal ein Tabuthema in diesem Land werden sollte.“ Wenn nötig, werde sie einen Rollstuhl nutzen. Das ist alles.Nicht zu nett für die PolitikDreyer trägt ihre Krankheit nicht zu Markte, und sie definiert sich nicht über ihr Handicap. Aber es ist klar, dass sie in einem Maße authentisch wirkt, wie es viele Wähler bei den Florian Gersters der Politik vermissen. „Malu Dreyer hat die Gabe, auf die Menschen einzuwirken und sie mitzunehmen“, und zwar „nicht nur pro forma“, so sagte es der ehemalige SPD-Minister Karl Peter Bruch dem SWR. Dem politischen Motto auf ihrer Webseite „Tolerant handeln. Sozial entscheiden. Selbst bestimmt leben“ folgt sie selbst. Mit ihrem Mann Klaus Jensen, dem Oberbürgermeister von Trier, und dessen drei Kindern lebt Dreyer in einem integrativen Wohnprojekt mit jungen und alten, behinderten und nichtbehinderten Menschen.Trotzdem wäre es wohl falsch anzunehmen, Dreyer sei zu nett für die Politik. Zehn Jahre Gesundheitsministerin, das gehe nicht ohne eine gewisse Härte, sagt einer, der sie in Bund-Länder-Verhandlungen erlebt hat. „Die würde nicht durchkommen, wenn sie nicht auch beißen könnte.“ Und in diesen oft elend langen Reformrunden ist sie keinesfalls eine der ersten, die zu Boden gehen. „Ich habe sie für ihr Durchhaltevermögen immer bewundert“, sagt der FDP-Politiker Kolb. „Sie ist eine taffe, kämpferische Person.“
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