Wann stürzt Erdogan?

Türkischer Frühling "Capulcular" hat Ministerpräsident Erdogan die Regierungsgegner genannt, "Plünderer". Die lachen das weg und wissen: das Land plündern andere. Was zu belegen ist.

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Police attacking a journalist reporting from Taksim Square

Auch an diesem Wochenende in der Türkei: Man bewegt sich überall im Land. Ganz besonders spektakulär in Istanbul und Ankara.

Die AKP-Regierung ist gespalten. Manche gehen auf Distanz zum Ministerpräsidenten, teilen weder seine Kriegeslust gegen Syrien noch seinen autoritären undemokratischen Politikstil. Von Erdogans baldiger Ablösung ist die Rede und davon, dass Staatspräsident Abdullah Gül schon in wenigen Tagen die Regierung übernehmen könnte.

Erziehungsdiktatur, Gängelung

Der zu Wutanfällen neigende Ministerpräsident will Türkinnen und Türken einer religiös inspirierten Erziehungsdiktatur unterziehen, angekündigt teils auch per Gesetz. Erdogan:

- Die Gebote der Religion sind nicht verhandelbar.

- Du darfst nicht abtreiben.

- Du sollst deine Kinder religiös erziehen.

- Du sollst in der Öffentlichkeit nicht küssen.

- Frauen sollen drei Kinder haben.

- Du sollst dein Haar bedecken (Frauen sollen Kopftuch tragen).

- Man soll kein Weißbrot essen.

- Stewardessen von Turkish Airlines sollten auf roten Lippenstift und Nagellack verzichten.

- Verteuerung und Einschränkung von Alkohol- und Tabakgenuss. (Das türkische Nationalgetränk sei Ayran.)

Republikgründer: "zwei Säufer"

Erdogan Ende Mai dieses Jahres zum Alkohol: "Was hat die Liberalisierung des Alkoholkonsums durch zwei Säufer zu sagen, wenn im Koran ein Alkoholverbot vorgesehen ist?" Mit "zwei Säufern" meint er Atatürk und Ismet Inönü, die Gründer der modernen laizistischen Türkei.

Erdogan beleidigt und provoziert damit Türkinnen und Türken, die eine eher westliche Lebensweise bevorzugen und er weiß, dass er damit seinem Wählerpotential in anatolischen Dörfern und Städtchen aus der Seele spricht.

Erdogan kränkt Menschen auch gern individuell. Den Zwischenrufer während einer seiner Kundgebungen beschied er: "Hau ab. Und nimm deine Mutter gleich mit!" Genau das schmettert man ihm nun landesweit entgegen.

Es scheiden sich die Geister, ob Erdogan nur ein Diktator sei oder gar ein Faschist. Wie auch immer: solange die EU zu ihm steht, wird er sich halten. Es fehlen zur Zeit massive sozialdemokratische, grüne und linke Interventionen zu Erdogans Politik, vor allem auf EU-Ebene. Und wie lange wollen Frau Merkel samt Unionsparteien und FDP noch warten oder abwarten?

Korruption zu AKP-Zeiten

Auch das enorme Ausmaß an Korruption des AKP-Regimes bringt Millionen Menschen auf türkische Straßen. Erdogan war früher Angestellter der Stadtwerke in Istanbul. Heute ist seine Familie steinreich. "Weil unser Tayyib so enorm fleißig ist", beantworten seine Parteigänger im Parlament entsprechende Fragen der Opposition. Frau Erdogan ist im privaten Gesundheitswesen millionenschwer erfolgreich, seine Kinder und andere enge Verwandte besetzen u.a. Schlüsselfunktionen in der Bauindustrie, in privaten TV-Sendern oder in der Handelsschifffahrt. Dass Erdogan auch selbst €-Millionär ist, versteht sich. Nach manchen Quellen soll Recep Tayyib Erdogan zu den weltweit zehn reichsten Ministerpräsidenten gehören.

Ein Beispiel für in Deutschland aufgedeckte Korruption im Zusammenhang mit der türkischen Regierungspartei AKP liest man hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Deniz_Feneri

Türkei: "Gefängnis für Medienmenschen"

Hunderte türkische Oppositionelle sitzen teils seit Jahren in türkischen Gefängnissen, darunter sehr viele laizistische Militärs, Journalisten, Künstler. “Wer in der Türkei Journalist ist, riskiert sein Leben. International gilt das Land als eines der größten Gefängnisse für Medienmenschen”, schrieben die “Reporter ohne Grenzen” am 30.01.2013. Die Türkei steht danach in puncto Pressefreiheit auf Platz 148 von 178 untersuchten Ländern, hinter Russland.

Dazu mehr hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Ergenekon

und: http://www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/pressemitteilungen/meldung-im-detail/artikel/reporter-ohne-grenzen-veroeffentlicht-aktuelle-rangliste-der-pressefreiheit/

Recep Tayyib Erdogan geht es um Einschüchterung, vor allem auch der Medien. Wie sonst ist zu erklären, dass während der letzten Tage nur zwei kleine TV-Sender von den Protesten berichteten, die das Land derzeit verändern?

AKP-Inspirator Fethullah Gülen

Innerhalb der Regierungspartei AKP ist ein stiller Richtungskampf ausgebrochen. Hier der in ländlichen Gegenden populäre und unberechenbare Schreihals Erdogan, den selbst viele innerhalb der AKP für nicht mehr unbedingt zurechnungsfähig halten. Da der leise und vergleichsweise feingeistige Staatspräsident Abdullah Gül. Er wie auch der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc scheinen scheinen für eine Ablösung Erdogans zu stehen.

Gül wie Arinc wiederum stehen unter Anleitung des enorm einflussreichen US-Exilanten Fethullah Gülen für allerlei Schleichwege der Islamisierung und verfügen damit über ein sehr fein geästelt operierendes Netzwerk.

Gülens Bewegung agiert weltweit mit eigenen Schulen, Medien, Lobbyisten usw., zumindest geduldet von den jeweiligen US-Administrationen. Von Erdogan hat der Fethullah sich vor einigen Jahren abgewandt.

Mehr über Fethullah Gülen und seine einflusssreiche Bewegung hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Fethullah_G%C3%BClen

Erdogans 4. Amtszeit

Für türkische Ministerpräsidenten sind per Gesetz nur drei Amtszeiten vorgesehen. Also müsste Erdogan demnächst gehen, aber er will Staatspräsident Abdullah Gül beerben, mit stark erweiterten Befugnissen nach dem Vorbild eines USA-Präsidenten. Das wiederum benötigt eine Veränderung der türkischen Verfassung und den Einkauf einiger Parlamentarier. Darüber wird vermutlich anlässlich der Kommunalwahren im nächsten März abgestimmt werden. Dass Gül ihn gewähren lässt, dass er freiwillig geht, gilt aus oben genannten Gründen derzeit als nicht sehr wahrscheinlich.

Medienkampagne

Das auflagenstärkste türkische Blatt "Zaman" steht wie "Zaman today" der Bewegung Fethullah Gülens sehr nahe. Manche Zaman-Autoren bringen sich zur Zeit mit Gastbeiträgen in deutschsprachige Medien ein. Ihr Tenor: der derzeitige Protest innerhalb der Türkei sei ganz und gar nicht politisch. Sondern sympathische junge Menschen wollen im Gezi-Park ihren Unmut kundtun. Dabei gehe es weder um Religion noch um Laizismus und schon gar nicht um politische Parteien.

Die gemeinten Parteien, oppositionell und laizistisch, gehören allerdings ebenfalls zu den Wortführern der gegenwärtigen Proteste in der Türkei. Sie sollen der internationalen Diskussion über die Entwicklung der Türkei ferngehalten werden

Mehr zu Zaman hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Zaman_(Tageszeitung)

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Geschrieben von

weinsztein

Journalist. Lebt vorwiegend an der türkischen Ägäis. Guckt auf griechische Inseln. Kocht gern.

weinsztein

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