Die freie Landschaft des Zufalls

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Mit dem Ruf von Cages Musik, sie sei besonders frei, freiheitlich, befreiend, will ich mich heute auseinandersetzen. Ein Aufsatz von Heinz-Klaus Metzger, John Cage oder Die freigelassene Musik aus dem Jahr 1959, dient mir dabei als Folie. Er steht programmatisch am Anfang eines Metzger-Sammelbands mit fast gleichnamigem Titel: Die freigelassene Musik. Schriften zu John Cage, herausgegeben von Rainer Rien und Florian Neuner, Wien 2012, der im April bei Klever erscheinen soll. Metzger hat einen schwierigen, an Adorno geschulten Stil, dennoch ist ihn zu lesen ein intellektueller Hochgenuss. Man lernt viel und bekommt Lust, nach dem Cage-Buch auch andere Schriften von ihm kennenzulernen. Allerdings muss man seinen Deutungen nicht immer zustimmen. Wenn ich im Folgenden an dem Cage, den uns Metzger hinstellt, allerlei auszusetzen habe, bin ich deshalb über den wirklichen Cage noch nicht unbedingt im Bilde.

Sehr erhellend beschreibt Metzger die Entwicklung, die von Arnold Schönberg zu Pierre Boulez geführt hat, gegen den er Cage ausspielt, und man wird sehen, mit welcher dialektischen Raffinesse das geschieht (S. 16 ff.). Schönberg hatte die von ihm so genannte Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander (statt auch auf einen Grundton) bezogenen Tönen eingeführt: Darunter ist zu verstehen, dass im Ablauf einer Komposition eine Tonhöhe immer wieder erst dann erscheinen darf, wenn vorher alle anderen Töne der von C zu H führenden Tonhöhenskala erklungen sind, und zwar in festgelegter Reihenfolge erklungen sind. Die Festlegung der "Reihe" sei aber noch nicht das eigentliche Komponieren, erklärt uns Metzger nun, sondern bestimme nur dessen Möglichkeitsgrenzen - die, wie Schönberg oft betont hat, w e i t e r gezogen sind als die Grenzen des Erlaubten in der vorausgegangenen "tonalen" Musik.

Innerhalb solcher Grenzen habe Schönberg noch motivisch-thematische Arbeit im seit Haydn überlieferten Sinn getrieben, so Metzger. Nicht die "Organisation" der Reihe, sondern die freie "Artikulation" des "Ausdrucks" in den Möglichkeitsgrenzen der Reihe sei Schönbergs Komponieren gewesen. Der Schönberg-Schüler Anton Webern indes habe die "Differenz von Organisation und Artikulation" tendenziell aufgehoben, "namentlich die Intervallfunktion", also die Sprünge oder Abstände zwischen Tonhöhen, "ist in der Tat zunehmend beides". Nicht mehr an Schönberg, sondern an Webern haben nun Komponisten wie Boulez angeknüpft. Deren Methode nannte man "seriell", weil sie nicht nur den Tonhöhenverlauf, sondern auch den rhythmischen Verlauf, den dynamischen und überhaupt alle "Parameter" einer Komposition durch Reihen festlegten. Das führt dazu, dass es im ersten Stück des ersten Bands der Structures pour deux pianos von Boulez "eigentlich nur noch solche Noten [gibt]" wie jene bei Webern, die Organisation und Artikulation zugleich sind.

Und das bedeutet, mit der Freiheit des Komponierens ist es hier vorbei. Der Komponist ist Organisator geworden, Adorno wird sagen: Konstrukteur. Sind erst die Reihen organisiert, steht der Ablauf der Stücke, die man immer noch Kompositionen nennt, genau fest. Das aber führt zum dialektischen Umschlag - zu Cage: "Man möchte sagen, es laufe aufs gleiche hinaus, ob der Komponist vom Zufall oder von der Reihe sich diktieren lässt, was er an dieser oder jener Stelle niederschreibt." Damit hat Metzger Cages Methode, Musik aus dem Zufall zu generieren, erst einmal g e r e c h t f e r t i g t .

Aber dabei bleibt es nicht, denn während Metzger das geläufige Urteil über die serielle, durch Reihen organisierte Komposition, sie sei zwanghaft, unterschreibt, soll bei Cage der Zwang in Freiheit umgeschlagen sein. Metzgers Formulierung des Unterschieds zwischen Cage und Boulez ist schwierig, ich werde übersetzen müssen, will aber erst einmal zitieren: Darin soll er bestehen, "dass das Subjekt", wenn es Cage heißt, "den v o n k e i n e r I n t e n t i o n s c h o n b e s e t z t e n Zufall sich endlich zueignen mag", während die vom Subjekt, wenn es Boulez heißt, " s e l b e r h e r v o r g e b r a c h t e und objektivierte Organisation - als entfremdete sich ihm gegenüberstellend - ein Böses annimmt und w i d e r s e i n e e i g e n e I n t e n t i o n sich kehrt" (Hervorhebung und Parenthesezeichen von mir).

Auf Deutsch: Einer wie Boulez verstrickt sich gerade dadurch, dass sein Selbst Absichten, Intentionen hat und sie realisiert, in die Entfremdung, denn die Realisation tritt ihm als Objekt gegenüber und dieses muss sich als entfremdetes erweisen. Einer wie Cage hingegen klammert sein Selbst und seine Absichten ein und kann gerade dadurch s i c h etwas z u e i g n e n - ein freiheitlicher Akt offenbar -: den Zufall, wie er an und für sich selbst ist. Weil Boulez, anders gesagt, sich nicht einklammert, bleibt er in s e i n e m Selbst gefangen und reicht an den wahren Zufall gar nicht heran. Cage aber, der diesen Käfig sprengt (den Käfig seines Namens, könnte man sagen, denn die Übersetzung von cage ist "Käfig"), hat die freie Landschaft des Zufalls vor Augen, beziehungsweise im Ohr, ist dadurch selbst frei und befreit durch zufallstreue Musik auch die Interpreten und Zuhörer. Noch einmal anders: Boulez ist sozusagen durch die Wüste gewandert, aber das Wandern nützt nichts, denn wohin man auch strebt, führt es in die Irre; Cage, der sich in Gelassenheit übt, macht nur die Ohren auf - das ist schwierig genug - und hört das Gelobte Land.

So weit die Konstruktion von Metzger. Sie ist schon vordergründig aus dem sehr einfachen Grund unplausibel, dass der Vergleich von Cage und Boulez mit einer einzigen und absolut untypischen Komposition des Letzteren arbeitet. Boulez hat es deutlich gesagt, und es ist auch unübersehbar: Das erste Stück des ersten Bands der Structures pour deux pianos ist ein Grenzfall, als solchen hat ihn Boulez bewusst komponiert und dergleichen dann niemals mehr wiederholt. Es ist gerade darin ein Grenzfall, dass sein Verlauf, seine Partitur aus den vorher festgelegten Reihen in jeder Einzelheit zwingend folgt. Mit andern Worten, hier sind "Organisation" einerseits, "Artikulation" und "Ausdruck" andererseits in der Tat dasselbe, aber in allen anderen Kompositionen von Boulez sind sie es nicht. Warum hat Boulez dieses Stück, in dem es keine Freiheit, sondern nur Notwendigkeit gibt, überhaupt geschrieben? Weil er sich und anderen die Möglichkeitsgrenzen s e i n e r Musik eigens und als solche zu Gehör bringen wollte. Diese Grenzen sind noch viel weiter gezogen als die von Schönberg und Webern, und zwar vor allem in rhythmischer Hinsicht. Denn so sehr ist hier die Wucht und Differenziertheit der Rhythmen erweitert, dass der unvorbereitete Zuhörer es nicht aushält, sich erst einmal gequält abwendet.

Wenn das erste Stück des ersten Bands der Structures pour deux pianos keine für Boulez typische Komposition ist, kann es Cage auch nicht mehr rechtfertigen. Cage komponiert also nicht auf andere, bessere Weise genauso wie Boulez. Metzger braucht aber diese Rechtfertigung, die keine ist, für seine Argumentation. Denn sein generelles Argument ist dieses: A l l e M u s i k , die der von Cage vorhergeht oder sich ihr entgegensetzt, habe so "notwendig" wie möglich gestaltet sein wollen. "In Cage" aber "trägt endlich auch für die Musik die vollkommene Explosion des abendländischen Kunstwerks sich zu. Zutiefst lässt er damit aber eine uralte Katze aus dem Sack: dass es mit der Notwendigkeit in der inneren Komplexion des Kunstwerks insgeheim nie stimmte" und "dass es gerade deshalb so emphatisch deren Anspruch erheben musste", den Cage "als Ideologie [durchschaut]". (S. 15)

Es ist wahr: Die Notwendigkeit einer Sache, die aus Absichten eines Selbst heraus entstanden ist, kann sich mit der Notwendigkeit des Zufalls nie messen. Das hat aber einen Grund, den Metzger übergeht: Das Selbst will seine Sache gar nicht in derselben Weise notwendig machen, wie Zufälle notwendig sind. Beethovens Selbst, wenn es komponiert, will eine Botschaft zu Gehör bringen. Dabei fügt er sich den Notwendigkeiten der musikalischen Sprache. Sagen wir: ihrer Grammatik. Musikalische Sprache unterscheidet sich freilich von der literarischen dadurch, dass jeder Komponist die Grammatik mehr oder weniger verändert, aber darin liegt schon, dass es eben wirklich eine s p r a c h l i c h e Notwendigkeit ist und k e i n e p h y s i k a l i s c h e . Der nicht (nur) physikalische Charakter von Sprache hat zwei gravierende Konsequenzen: Erstens ist sprachliche Notwendigkeit, eben weil sie verändert werden kann, nur bedingt notwendig; zweitens dient sie der Botschaft und fällt mit ihr nicht zusammen. (Diese "Notwendigkeit" und jene oben so genannten "Möglichkeitsgrenzen" von Musik sind dasselbe.) Der Zufall hingegen ist a b s o l u t notwendig und dient k e i n e r B o t s c h a f t , außer wir machen ihn selbst zu einer solchen. Was will es uns sagen, dass es Zufälle gibt?, fragen wir dann. Wohin leitet uns der Zufall? Und indem wir uns seiner absoluten Notwendigkeit unterwerfen, wären wir frei.

Ich unterbreche die Erörterung an dieser Stelle, um morgen fortzufahren. Es wird auch wieder von Konzerten der MaerzMusik die Rede sein, sei's im nächsten oder übernächsten Eintrag. Aber weil, wie ich vorgestern geschrieben habe, "Cages Musik in Cages Gedanken begründet ist" - die vielleicht mit Metzgers Gedanken ungefähr übereinstimmen, vielleicht aber auch nicht -, meine ich, man würdigt diesen Komponisten am besten, wenn man sich gedanklich mit ihm austauscht und das nicht nur nebenbei, sondern in erster Linie. Cage lädt dazu auch ein. Man muss sich nur das Cage-Foto auf dem Portlet ansehen, das zu meinen Einträgen führt: So ein freundlicher Mann ist er, der tatsächlich sehr frei ist, indem er einfach tut, was er tun zu müssen glaubt. Man hätte ihn gern persönlich kennengelernt! Er hat immer zu überzeugen versucht, statt Autorität vorzuschützen, und seine intellektuelle Neugier war unerschöpflich. Viele Zeugen berichten eindrucksvoll davon. Wenn er anders denkt als der oder jene und etwa auch ich, warum denn nicht? Es geht ja gar nicht darum, ihn zu "widerlegen". Nur verstehen wollen wir ihn.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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