Sündenfall oder Bewährung?

Religionskampf Im Schlepptau der Frommen mutiere der Rechtsstaat zu einem Gottesstaat, behauptet Tilman Jens und bezieht sich auf das Beschneidungsgesetz. Überzeugt seine Argumentation?

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"Eine Streitschrift wider den klerikalen Zeitgeist", lese ich und denke: nicht schon wieder! Doch dann sehe ich das bedrohlich wirkende Beschneidungsmesser auf dem Umschlag und entdecke den Zusatz: "Aus gegebenem Anlass". Also erwerbe ich das Büchlein (1). Für irgendetwas muss der Gutschein der Mayerschen ja gut sein.

Hätte ich doch den letzten Deschner gekauft!

Dabei teile ich die Prämisse des Autors. Kirche und Staat sollten strikt getrennt sein. A la francaise zum Beispiel. Wie ihn ärgert auch mich der Einfluss des Klerus in der Öffentlichkeit. Auf warenästhetische Missionierungsversuche durch Beilagen wie Credo und Chrismon reagiere ich allergisch. Und wenn ein FR-Kommentator in einen Shitsturm gestellt wird, weil er etwas derb die vorgesehene Heiligsprechung eines rezenten Papstes ironisierte, zweifele ich am Erfolg der Aufklärung. Und doch: Tilman Jens hat kein gutes Buch geschrieben.

Ironie und Sarkasmus sind der Pfeffer einer Polemik. Jens aber überwürzt - oder wählt die falsche Dosis. Man mag darüber streiten, ob man den Papst als "Lenker eines multinationalen Konzerns" bezeichnen und gewollt originell von "heiliger Vaterschaft" reden muss. Das ist nun einmal gängige Kirchenkritikersprache. Aber ist auch folgendes gängig? "Religionsgemeinschaften dürfen... die Glieder kleiner Knaben mit Messern traktieren. Teilamputation im Geiste der Propheten Moses und Mohammed!" oder "... ein sich zu schaffen Machen an den Genitalien unmündiger Kinder" oder "Fellatio am achten Tage nach der Geburt!" Muss man eine lange und unerträgliche Strophe aus einem Poem des grünen Politikers Dunkel zitieren ("Wetzt das Messer, singt ein Lied,/Ab die Vorhaut von dem Glied...") und dieses als "nicht eben feinsinnig" verniedlichen und den Dichter selbst als "Ketzer" heroisieren?

Natürlich muss man nicht. Man muss das Beschneidungsgesetz vom 12. Dezember 2012 auch nicht als "Privileg der Sondergerichtsbarkeit" bezeichnen. Vor allem nicht, wenn man der Gegenseite "Geschichtsvergessenheit" vorwirft. Aber Sprachfragen sind immer auch Geschmacksfragen. Und starke Worte erregen nun einmal Aufmerksamkeit - wie das Beschneidungsmesser auf dem Titel. Aber worum geht es inhaltlich?

Tilman Jens sieht die Bundesrepublik auf dem Weg in den "Gottesstaat". Er belegt dies an Beispielen wie dem Zusammenspiel katholischer Kirche und bayrischer Regierung im Kruzifixstreit oder den Positionen (auch linker) Protestanten in Bezug auf Pussy Riot. Soweit so gut. Wenn auch etwas einfach. Überdeutlich aber wird, dass es ihm um das '"Eigentliche" geht. Es ist das Judentum, das hier stellvertretend für die "lange blutige Tradition des Glaubens" steht, das er "auf den Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit" stellen möchte. Die Circumcision ist für ihn Missbrauch und Körperverletzung. Darum sei das Gesetz vom 12. Dezember der "Sündenfall des Rechtsstaats". Imame oder Rabbiner lasse der Gesetzgeber "ungestraft gewähren". Damit sei "religiöses Sonderrecht" geschaffen. Das erinnert an den sehr deutschen Philosoph Fichte, den ich auch angesichts der Streitbarkeit von Jens im Wortlaut zitiere:

"Aber ihnen die Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei."

Saul Ascher kommentierte im selben Jahr 1794:

"Wer hätte denken sollen, dass eben das Kopfabschneiden in Deutschland solche Anhänger finden sollte, die eine ganze Nation durch dieses Experiment schon gebessert sehen (Eisenmenger der Zweite)"(2).

Nicht nur, wenn man in der ungemein komplexen Beschneidungsfrage zu einer anderen Meinung als der Autor tendiert, erwartet man als ernstzunehmender Leser zumindest im Ansatz eine Diskussion der Argumente der gegnerischen Partei. Doch Jens enttäuscht. Er umgeht die sehr ernste Frage, warum gerade Deutschland eine juristische Vorreiterrolle spielen solle. Im als vorbildlich beurteilten laizistischen Frankreich wurde die Debatte mit ziemlichem Unverständnis beobachtet. Es scheint Jens auch nicht sonderlich zu beunruhigen, dass neben den Antiklerikalen vor allem Ärzte und Juristen (wieder einmal) an vorderster Front stehen.

Er führt aber ein merkwürdiges Argument an. Ayse Demir zitierend, die bezweifelte, ob die Regierung so schnell gehandelt hätte, wenn die Juden nicht betroffen gewesen wären, schreibt er recht locker: "Dabei leben in Deutschland über vier Millionen Muslime - und nur knapp 200 000 Juden." Die Schieflage dieser Aussage scheint ihm halb bewusst zu werden, denn noch im selben Abschnitt verbessert (verschlimmbessert?) er sich, indem er überlegt, ob "deutsche Sonderwege - denken wir an den Ausstieg aus der Atomenergie - gelegentlich nicht auch hilfreich und nützlich (sind)." Hilfreich? Nützlich? Nun, auch wenn die Geschichtsvergessenen immer die anderen sind, hier macht jemand mit der Vergangenheit tabula rasa. Spricht hier die "repressive Intoleranz" (Adorno)?

Aber auch die Intoleranten sind immer die anderen, bei Jens sind es diejenigen, die alles unter Antisemitsmusverdacht stellen. Nun haben die letztjährigen Debatten eines gelehrt: der Antisemitismus wird banalisiert, wenn er auf alles und jeden bezogen wird. Dies erzeugt bei vielen Unbehagen. Die Mißstände sind nun einmal real. Der israelische Staat ist auch repressiv. Die Beschneidung ist blutig. Andere Staaten würde man schwer kritisieren, etwaige blutige Rituale christlicher Kirchen brandmarken. Diese Unsicherheit, die eine der Sache ist, wird verstärkt durch das Schwingen der Anti-Antisemitismuskeule. In dieser Übung ist Jens von einer gewissen Virtuosität (allerdings reichen einige Grundregeln), er haut aber stets daneben.

Einige Beispiele. Er nennt ziemlich unerwartet Feridun Zaimoglu, der in der Tat geschrieben hatte: "Die heutigen Akteure der Religionskritik sind Profilneurotiker. Sie wllen abschaffen, verfolgen, zerstören, verunglimpfen, zensieren." Jens interpretiert dies völlig unverständlich als "Hasspredigt" eines Heiligen Kriegers.

In diesem Klima habe der Rechsstaat keine Chance, so der Autor. Der Vorwurf des Antisemitismus stehe "in unheilvoller Tradition", behauptet er, den argmentativen Spieß umdrehend. Er bezieht sich explizit auf die Vorwürfe gegen Walser, Grass und Augstein. Walser sei "als antisemitisches Ungeheuer" (?) dem "Abschuss freigegeben" worden . Dass die Vorwürfe, ob stimmig oder nicht, in anderen Zusammenhängen erhoben wurden, übersieht er. So einfach ist das manchmal.

Übel ist folgendes Argument. Der Autor bezieht sich auf die Bielefelder Studien, die 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Affnitäten assistieren. Daraus schließt er messerscharf, dass der überwiegende Teil judenfreundlich sei. Schließlich hätten fast 70 Prozent der (recht ambivalenten) Aussage "Juden bereichern unsere Kultur" zugestimmt. Er verschweigt den analytischen Befund der Bielefelder, "dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung Antisemitismus auf Umwegen kommuniziert" (Deutsche Zustände, 3). Wie auch immer. Dass auch antisemitische Motive bei den Beschneidungsgegnern wirken könnten (Konjunktiv II), wird nicht widerlegt.

Auch dessen scheint sich Jens halbbewusst zu sein. Er wird schließlich ernst und zitiert lange aus dem bekannten Text Charlotte Knoblochs, darunter auch die Passage: "Nicht einmal in meinen Albträumen hätte ich geahnt, dass ich mir die Frage stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen." Jens reagiert folgendermaßen: "Stopp! Da heißt es innehalten. Den eigenen Standpunkt überprüfen." Da ist er wieder: der Prüfstand. Nach allerdings kurzer Prüfung steht das Urteil fest: "Bei allem Respekt. Es gibt kein Recht im Unrecht..." Auch nicht für die Kindeskinder einer Charlotte Knobloch. Denn Herr Oberrichter Jens weiß: "Im Zentrum des Konflikts steht nicht die deutsche Geschichte, sondern die verfassungsmäßig verbürgte Garantie auf körperliche Unversehrtheit..." Punkt. Kein Stopp mehr. Und kein Kommentar dazu.

Ich nehme Tilman Jens ab, dass es ihm wirklich um das Wohl der Kinder geht. Er argumentiert wie ein voltairianischer Antiklerikaler "après la lettre", als einer, der den vermeintlichen und wirklichen Obskurantismen und Archaismen dieser Welt den Kampf angesagt hat, einer der unerbittlich und gnadenlos für die rechtliche Gleichheit aller ficht und sich durch nichts aufhalten lassen will (auch nicht durch ein schlechtes Gewissen?). Warum nur stellt er sich nicht einmal die Frage, ob sich der Rechtsstaat nicht gerade im Umgang mit dem Nichtidentischen bewährt?

Vielleicht sollte er sich "stopp" sagen und den eigenen Standpunkt "auf den Prüfstand" stellen, eventuell auch die Negative Dialektik lesen: "Wut ist die Signatur eines jeglichen Idealismus; sie entstellt noch Kants Humanität, widerlegt den Nimbus des Höheren und Edleren... Die Ansicht vom Menschen in der Mitte ist der Menschenverachtung verschwistert: nichts unangefochten lassen. Die erhabene Unerbittlichkeit des Sittengesetzes war vom Schlag solcher rationalisierten Wut aufs Nichtidentische."

(1) Tilman Jens, Der Sündenfall des Rechtsstaates. Eine Streitschrift zum neuen Religionskampf. Aus gegebenem Anlass. Gütersloh 2013 (Gütersloher Verlagshaus)

(2) André Thiele (Hrsg.), Saul Ascher, Flugschriften. Mainz 2011(VAT Verlag)

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