Welfare statt Illfare. Das Vermächtnis Tony Judts.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ratlos sind wir. Wissen nicht mehr weiter. Für die Älteren war früher vieles besser, die Jüngeren kennen es nicht besser. Selber Monaden starren wir auf die Monadisierung der Gesellschaft.

Die Grünen sind freidemokratisch. Die SPD ist christdemokratisch. Die Linke ist sozialdemokratisch. Welch ein Fortschritt!

Orientierungshilfe könnte das vor kurzem erschienene Traktat Dem Land geht es schlecht des 2010 verstorbenen Historikers Tony Judt leisten (1). Ursprünglich ein Vortrag an der New York University, dann zu einem Buch ausgeweitet und buchstäblich dem Tode abgerungen, stellt es eine Art Vermächtnis dieses Großhistorikers dar. Tony Judt hatte sich vom Marxisten zum "universalist social democrat" gewandelt. Er sah sich first and above all as a teacher of history.

Das Buch ist adressiert als Wegweiser für Ratlose an junge Leute beiderseits des Atlantiks. Ich meine, es ist auch für ältere Semester und Doktoranden südlich von Nord- und Ostsee von Interesse. Zumal das Werk als Zitatengrube für wahlkämpfende sozialdemokratische Linke und linke Sozialdemokraten dienen kann und wird.

Diagnose. Der für eine Demokratie notwendige öffentliche Raum und seine Güter verwahrlosen. Judt stellt dies an seinem Lieblingsthema, der Eisenbahn, dar (er wollte darüber noch ein Buch schreiben). In Großbritannien wurde diese, ein unabdingbares öffentliches Gut und von ihrer Natur her ein Monopol bekanntlich radikal privatisiert - mit verheerenden Folgen. Effizienz und Wirrtschaftlichkeit waren versprochen. Statt dessen gab es Umweltbelastung und Verödung von Dörfern und Städten. Judt erinnert an die Bedeutung der Kopfbahnhöfe: Topographie und Alltag der Metropolen würden komplett anders aussehen, wenn die großen Kopfbahnhöfe plötzlich verschwänden. Dafür gibt es Beispiele (Montparnasse, demnächst Stuttgart). Bitter bemerkt der Autor: Es ist kein Zufall, dass Margaret Thatcher nie mit der Eisenbahn gefahren ist.

Die Great Train Robbery ist nur ein Exempel für die öffentliche Verwüstung. Täglich erleben wir marode Straßen, verwaiste Kommunen, unwürdige "Häuser der Bildung" und trostlose "Einkaufszentren". Gleichzeitig hat in den letzten Jahrzehnten die soziale Ungleichheit zugenommen. In den kapitalistischen Industrieländern wurde die Welfare reduziert und stigmatisiert. Manchesterzeiten sind angesagt. Der Historiker Judt erinnert an das New Poor Law von 1834 mit seiner berüchtigten Alternative Zuchthaus und Zwangsarbeit oder "freie" Arbeit zu Hungerlöhnen. Wenn es um Ausbeutung geht, möchte ich ergänzen, finden sich immer Alternativen. Die Reichen - dies beschreibt der Autor anschaulich - verschanzen sich in Gated Communities - auch dies in Rückfall in vormoderne Zeiten. Mit modernsten Mitteln, versteht sich.

Genese. In Passagen, die nicht zufällig "konservativ" klingen, beschreibt Judt die "verlorenen Welten" der Nachkriegszeit, in Frankreich die "Trente Glorieuses" genannt. Keynes gab makroökonomisch den Ton an, und er wusste als "kluger Konservativer" wie auch di Lampedusa, dass sich alles ändern müsse, wenn es bleiben soll, wie es ist. Antizyklik plus Sozialstaatlautete die Maxime des politischen Willens sowohl der konservativen als auch der sozialdemokratischen Entscheider. Die Kommunismusangst war ein zusätzliches Motiv. Markt und Welfare waren kein Widerspruch. Progressive Steuern waren selbstverständlich und wurden nicht, ergänze ich, von selbst ernannten "Leistungsträgern" skandalisiert.

"Common Decency" hatte Orwell diese Solidarität genannt. Judt bezieht sich auf Skandinavien: Je egalitärer die Gesellchaft, desto größer das Vertrauen. Nicht nur in die Regierungen, sondern auch in die Mitbürger. Es war die Zeit der "guten" (lebenslangen) Arbeit und der starken Trade Unions. Judt verschweigt nicht die Sünden der Wirtschaftsplanung, vor allem die trostlosen Stadtlandschaften, die Angst- und Kontrollgesellschaften gebaren. Doch erscheint mir seine Beschreibung zu idyllisch. Er verschweigt die zahlreichen ungemein blutigen Kriege der Zeit und damit auch deren Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung. Vereinfacht: auch Keynesianismus war und ist Kapitalismus.

Mit den Achtundsechzigern gab es einen Individualisierungsschub. Deren Antikapitalismus und Anti-Etatismus war paradoxerweise mit Privatismus gepaart. Es ging um individuelle Ansprüche an Gesellschaft und Staat. Nicht nur Judt stellt die Kollusion der libertären Achtundsechziger mit dem Neoliberalismus fest. Er spricht von der "Revanche der Österreicher" (Mises, von Hayek, Schumpeter, Popper), die in den ersten Krisen des Nachkriegskeynesianismus zur Durchsetzung des Paradigmas "Privat vor Staat" führten. Und diese fanden willing executioners in den Thatcher, Reagan, Bush und Blair ("Cool Britannia"), die mit ihrem regelrechten Privatierungskult einen - so Judt - jahrhundertelangen Prozess rückgängig machten. Der Gesellschaft wurde der (Sozial)Staat ausgetrieben. Und während die "Kinder von Marx und Coca Cola" sich noch öffentlich engagier(t)en, sortierten die "Kinder Maggie Thatchers" ihre Pilotenkoffer. Es gibt keine politischen Bewegungen mehr, konstatiert Judt 2010 (vor Ägypten). Die temporären Bewegungen erschöpfen sich in gefühlsmäßigen Äußerungen (Klima, Tierschutz).

Therapie.

Die marxistische Linke bietet Judt zufolge kein Antidot - im Gegenteil. Die Vision einer totalen sozialen Kontrolle liegt in Trümmern. Das meint, die Idee einer gesamtgesellschaftlichen Planung versagt vor der Realität und kann nur zu Repressionen führen. Andererseits ist eine grundlegende Veränderung des Kapitalismus für den Autor notwendig: Die Menschen können sich moralisch oder wirtschaftlich nicht lange über Wasser halten, indem sie immer nur das Boot leerschöpfen (Titmuss). Ein kluger Satz. Doch was schlägt der Sozialdemokrat Judt vor?

1. Es kömmt auf das Durchsetzen sprachlicher Hegemonie an. Reichtum, Welfare Fairness, Gleichberechtigung, die Frage, was eine gute Gesellschaft wert sei, müssen Leitbegriffe werden (Leit-, nicht light). Es muss mit Ernst und Konsequenz diskutiert werden, nicht in medialen Pseudodebatten.

2. Die Soziale Frage muss neu gestellt werden, nicht im Sinne Blairs und Schröders, sondern im Lichte der Menschenwürde, die mehr als die Hartz-IV-Brosamen braucht, viel mehr (individuell und öffentlich).

3. Judt fordert eine neue Moral. Er meint eine politische Moral: Wir sind alle Kinder der Griechen. D.h., wir wollen uns engagieren. Und wir wollen mit Aristoteles ein anderes Maß für Reichtum. Heute hat Maßhalten einen schweren Stand, schreibt der Autor.

4. Oberstes Ziel ist der Abbau von dauerhafter Ungleichheit, was eigentlich auch im Interesse der Reichen sei, denn: Egoismus ist anstrengend. Judt geht nicht so weit, ihnen diese Bürde abnehmen zu wollen, sondern fordert auch von Reichen Solidarität ein, die Fraternité der Französischen Revolution.

5. Auf den Nationalstaat ist gerade angesichts der Globalisierung nicht verzichtbar. Wir müssen den Staat neu denken. Dieser Staat ist ein Staat ohne Repression. Freiheit sei stets wichtiger als Effizienz. Dieser Staat hat planende Elemente, denn der größte Feind des Marktes ist der Markt. Es kommt also darauf an "öffentliche Hand" und "unsichtbare Hand" abzuwägen.

Kritik. Natürlich wirken diese Vorschläge ungemein bescheiden. Marxistische Linke werden den Kopf schütteln und den Daumen senken: keine antikapitalistische Perspektive, it's economy, not morality, Mr. Judt! Die Unterscheidung von "Sozialismus" und "Sozialdemokratie", die der Autor am Ende erwägt (und verwirft), die aber fatal an die Vorschläge des französischen "Hoffnungsträgers" Manuel Valls erinnert, war das nicht der Anfang vom Ende von Labour, SPD, Parti Socialiste e tutti quanti?

Andererseits. Revolutionäre Phrasen bringen Selbstbestätigung - und nicht viel mehr. Wir standen im Bann der Romantiker, schreibt Judt. Wir sind in Geschichte verwurzelt, zitiert er Burke (ausgerechnet den!). Man kann in der Tat du passé keine table rase machen. Im Gegenteil: Vieles ist zu retten. Und doch. Bei aller Zustimmung in dieser Frage:

Es waren die Neoliberalen, die uns die (auch sozialdemokratische, übrigens nannte sich auch Louise Michel eine democrate sociale) Herkunft ausgetrieben haben. Mit unserem Konsens. Wie konnte dies gelingen? Warum hat dieses "Enrichissez-vous" diese Macht?

Und so endet das Buch überraschenderweise dann doch mit der elften Feuerbachthese.

(1) Tony Judt, Dem Land geht es schlecht, Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit. München 2011 (Hanser)


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden