Widerstand oder Kollaboration?

Entscheidungen Wie hätte ich mich verhalten? Der Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Pierre Bayard unternimmt ein spannendes historisches Gedankenexperiment.

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Wer es nicht selbst dabei war, sollte den Mund halten. Seid ihr denn sicher, dass ihr euch anders verhalten hättet?

Das Argument ist wohlbekannt. Man merkt die apologetische Absicht und ist verstimmt. Opa war kein Nazi. Punkt. Und ein Friedrich Flick ist ohne Schuld. Schließlich hat ihm Professor Carl Schmitt direkt nach dem Krieg bescheinigt, dass Loyalität selbst gegenüber dem Nationalsozialismus geboten gewesen sei. Und der muss es wissen. Ende der Debatte.

Dabei ist der Verweis auf das Fehlen von Eigenerfahrung nicht völlig falsch. Wer zum Beispiel den heutigen Grünen die Verharmlosung einstigen Umgangs mit Pädophilie vorwirft, ohne auf das damalige Sexualstrafrecht und die Diskussion der (auch sexuellen) Emanzipation einzugehen, ist bestenfalls ahnungslos. Der Kardinal sitzt mit dem Zuhälter in einem Boot, die Geliebte mit der Dirne und wir mit dem Staatsanwalt, so beschrieb Volkmar Sigusch noch 1984 die Situation.

Noch größer ist die Gefahr einer verzerrenden Komplexitätsreduktion, wenn es um Verhaltensweisen in einer Kette krisenhaft zugespitzter Gewaltsituationen geht, und zwar nicht nur im Nationalsozialismus. Zurecht warnt Christopher Browning am Ende seiner bekannten Studie über die "Quite Ordinary Men": Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?

Der 1954 geborene Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Pierre Bayard stellt sich (und uns) ganz konkret die Frage:

Wäre ich Résistant oder Henker gewesen?

Natürlich ist das provokativ formuliert und eng auf nur eine Alternative zugespitzt. Henker (bourreau) wird im Französischen allerdings auch auf Folterer, Schlächter, also Täter im engeren Sinn, angewandt. Und natürlich ist sich der Autor der Uchronie seiner Frage bewusst. Das heutige Ich hat bestenfalls eine entfernte Verwandtschaft mit einem fiktiven früheren Ich. Aber trotz dieser Einwände erscheinen die Methode, mit der Bayard sich historisiert, und die Ergebnisse im Rahmen einer nicht nur individuellen "virtual history" interessant.

Für den Autor sind bei der Schöpfung seiner "Personnage délegué" drei Aspekte zu berücksichtigen:

- die sozialpsychologischen "Gesetze", die unser Verhalten steuern;

- das eigene gegenwärtige Verhalten in annähernd analogen Situationen;

- das Verhalten des Vaters in der angesprochenen Zeit.

Dispositionen

Zu Beginn analysiert Bayard Louis Malles bekannten Film "Lucien Lacombe", dessen Held, ein junger Landarbeiter - von den Résistants abgewiesen - zum Kollaborateur und Verräter wird. Es wird deutlich, dass sich in dieser Krisensituation die "potentielle Persönlichkeit" Lacombes, "befreit", in dem Fall die Freude an der Gewalt und die Suche nach einer Vaterfigur. Bayards in die Vergangenheit delegiertes Ich wäre 1940 wie sein Vater mit 18 Jahren im Alter Lacombes, allerdings der Tradition seiner bourgeoisen, sehr katholischen Familie entsprechend in einer Vorbereitungsklasse der Ecole normale supérieure. Kein kleiner (sozialer) Unterschied.

Wie aber würde er sich nun entscheiden?

Bayard analysiert recht gründlich sozialpsychologische Studien (darunter das bekannte Milgram-Experiment), literarische Zeugnisse (ohne zu zögern geht der Immigrantensohn Raimon Gary als glühender Republikaner in den Maquis) und interpretiert vor allem Beispiele resistenten und refraktären Verhaltens im zweiten Weltkrieg.

Wenn die Leute an meine Tür klopften, fühlte ich mich einfach verantwortlich.

An diesem Schlüsselzitat Martha Trocmés, der Ehefrau des Pfarrers, der in den Cevennen mithilfe der protestantischen Dorfbevölkerung Tausende jüdischer Kinder rettete, wird die Rolle selbstverständlicher Empathie deutlich. Diese "high empathy", wie der Psychologe Bateson diese Fähigkeit nennt, korreliert dem "Sich-im-Opfer-Wiedererkennen". Umgekehrt bedeutet dies allerdings auch, dass die Disposition zum Täter mit den (imaginierten) Unterschieden stärker wird.

Doch warum haben augenscheinlich so wenige die "große Seele" der Eheleute Trocmé? Es ist die Angst, so der Psychoanalytiker Bayard, die einen inneren Zwang auf uns ausübt. Dagegen hilft der Glauben oder eine starke politische Überzeugung (die aber auch in die andere Richtung wirken können). Und der Glaube, nicht allein zu sein. Die Geschwister Scholl zeigen dies paradigmatisch - und tragisch.

Man muss den entscheidenden Schritt gehen. So wie Aristide de Sousa Mendes, portugiesischer Generalkonsul in Bordeaux, der 1940 dreißigtausend Visa für jüdische Flüchtlinge ausstellen lässt (in Tag- und Nachtarbeit) - gegen das ausdrückliche Verbot seiner Regierung, gegen die ängstlichen Vorbehalte seiner Familie. Er hat die Kraft, sich aus seinem engen bürokratischen Gehäuse zu befreien. Wie weit dieser Wille zur Freiheit auch in Extremsituationen gehen kann, belegt Milena Jesenki, die zeitweilige Geliebte Kafkas, im KZ Ravensbrück. Allerdings hätte der Autor hier stärker die Grenzen des individuellen Widerstands auch und gerade bei dieser ungemein starken Frau zeigen können. Eine Stärke, die Bayard mit Bezug auf den todesmutigen Widerstand in den Lagern der "Khmers rouges" analysiert. Mit Terestchenko spricht er von "Ich-Präsenz", also der Gegenwart eines Ich, das nicht reduzierbar ist... auf die geliehene, die leere Identität, auf das soziale Selbstbild (Michel Terestchenko).

Henker oder Résistant?

In Anwendung dieser Überlegungen entwickelt Bayard vorsichtig wahrscheinliche Verhaltensweisen seines fiktiven Ich.

1940 ist die Ecole normale supérieure nach Südwestfrankreich verlegt. Vermutlich ist er aufgrund seiner Erziehung gegen das kollaborierende Vichy-Régime. Es gibt, so Bayard, in seiner katholischen Familie eine tradionelle Abwehr politischer Indoktrination (auch kommunistischer). Aber der Schritt zum Widerstand ist weit. Bayard II bereitet sich gewissenhaft auf die Prüfungen vor. Die Risiken eines Roman Gary würde er nicht auf sich nehmen wollen und können.

Er geht daon aus, dass er - wie sein Vater - die antisemitischen Maßnahmen Vichys ab Oktober 1940 bestürzt zur Kenntnis nimmt. Aber es fehlt wohl die Fähigkeit zur "higher empathy". Weiterhin überwiegt die Angst. So geht es auch den meisten Kameraden. Nach seiner Rückkehr nach Paris, um nach der Prüfung an der Ecole normale zu studieren, trifft er täglich auf die deutschen Besatzer und die französische Polizei, er erlebt auch Repression. Die Direktion seiner Hochschule verlangt strikte politische Enthaltsamkeit. Bayard II hält sich daran, er bleibt also innerhalb des "Rahmens". Er will nicht ausgeschlossen werden. Schließlich geht es um die berufliche Zukunft.

Der Anstoß zum entscheidenden Schritt muss von außen kommen: im Februar 1943 stehen die Examen bevor, gleichzeitig droht Zwangsarbeit in Deutschland. Viele seiner Kameraden überlegen, in den Maquis zu gehen. Bayards realer Vater war nach Südfrankreich geflohen, dort aber verhaftet und nach Deutschland geschickt worden. Der regimetreue Direktor schlägt seinen Studenten vor, sie am Institut zu beschäftigen. Bayard II, chronisch krank, lässt sich zum Bibliothekar ernennen (Frühjahr 1943). Vielleicht, so überlegt der Autor, wird er die Stärke zu kleineren resistenten Handlungen im Rahmen dieser Tätigkeit finden, vielleicht als "Briefkasten". Aber auch dazu bedarf es eines äußeren Anstoßes. Vielleicht trifft er - hier bekommt der Literaturwissenschaftler im Autor die Oberhand - trifft er im Lesesaal eine junge Studentin, die über Kafka forscht...

Keine große Karriere als Widerständler also. Wie zu erwarten, wird man einwenden, wenn man die Ergebnisse der Résistance-Forschung bedenkt. Der Pazifismus der dreißiger Jahre, der Antikommunismus und die Krisenerfahrungen der Vergangenheit begünstigten zu Beginn sogar die Kollaboration. Das änderte sich mit dem Einmarsch Deutschlands in die Sowjetunion und dem verstärkten Engagement der Kommunistischen Partei im Widerstand (der individuell schon vorher begonnen hatte). Die Résistance bekam großen Zulauf mit der Einführung des Service du Travail Obligatoire vom September 1942, auf den mit Streiks und Demonstrationen reagiert wurde. 200.000 bis 350.000 junge Männer entzogen sich, drei Viertel von ihnen versteckten sich, ein Viertel der "Réfractaires" ging in den bewaffneten Widerstand. Der fiktive Bayard fand also eine ziemlich elegante Lösung.

Erkenntnisgrenzen

Am Ende seines Gedankenexperiments schlägt Bayard vor, sein Verfahren auf andere Kontexte zu übertragen, zum Beispiel auf die französische Revolution. Dies erscheint selbst methodenimmanent aufgrund der Quellenlage und dem Fehlen familialer Bezüge problematisch. Es wäre auch zu diskutieren, inwieweit sozialpsychologische "Gesetze", die ja "im Labor" gewonnen wurden und ihre Erkenntnisgrenzen haben, auf weiter zurückliegende Kontexte übertragbar sind. Die spekulativen Elemente würden zunehmen und die ernstgemeinte Frage in einer Art historischer Roman enden. Bayard selbst spricht von der "romanesken Seite" seiner Studie.

Deutlich wurde auch folgendes: Bayard II gehört zu einer sozial privilegierten Gruppe, so wie die meisten Beispiele resistenten Verhaltens, die er analysiert. Wie hätte ein Bayard II auf den großen Bergarbeiterstreik im Juni 1941 reagiert, an dem 100.000 "Gueules noires" teilnahmen, und der mit der Deportation von 244 Bergarbeitern endete? Wie weit geht soziale Empathie in einer besetzten Klassengesellschaft? Und wie geht er, falls er doch den entscheidenden Schritt wagen sollte, mit dem Gewaltproblem um?

Trotz dieser Einwände helfen die gewonnenen Kategorien historische Verhaltensweisen zu verstehen. Sie haben darüber hinaus eine politische Bedeutung, die Bayard selbst nicht weiter ausführt. Es geht um nichts Geringeres als Verhältnisse, in denen wir Dispositionen von "Widerständigkeit" entwickeln können.

Was bedeuten die Überlegungen Bayards für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts? Schließlich waren bei "uns" das Überschreiten des Rahmens, der Willen zur Freiheit und die Fähigkeit zum Ungehorsam nicht gerade ausgeprägt. Ich fürchte fast, die Frage müsste anders zugespitzt werden:

Wäre auch ich ein Täter gewesen?

Pierre Bayard, Aurais-je èté résistant ou bourreau? Paris 2013 (Les Éditions de Minuit)

Olivier Wievorka, Histoire de la Résistance, Paris 2013 (Perrin)

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