Emanzipative Pädagogik kritisch betrachtet

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Da im Moment die marxistischen Ansätze und die Reflexionen der Kritischen Theorie zur Pädagogik auf ein Podest gestellt werden (siehe Bildungswirt), möchte ich den Anlass nutzen, am Beispiel eines exponierten Vertreters dieses pädagogischen Ansatzes deren Schwächen zu dokumentieren. Eine bedeutende Unzulänglichkeit der Kritischen Erziehungswissenschaft ist die Unfähigkeit der Umsetzung des Emanzipationsbegriffes in konkrete pädagogische Handlungsanweisungen.

Bernhard Claußen ist ein solcher Vertreter der emanzipativen Pädagogik. Er begründet seinen Emanzipationsbegriff mit der Habermas’schen Interessenlehre. Er differenziert, genau wie jener, zwischen dem praktischen, technischen Interesse und dem emanzipatorischen (Erkenntnis)-Interesse: „Von einem praktischen Interesse kann gesprochen werden, wenn das Ziel des Strebens auf eine Handlungsorientierung (z.B. Erwerb von Sprachfähigkeit) ausgerichtet ist.“ Das praktische Interesse werde von der Gesellschaft an das Individuum herangetragen, um ihre Funktion aufrechterhalten zu können. Da jedoch die ökonomische Macht dominiere, ziele das praktische Interesse „auf die Verfestigung und langfristige Sicherung bestimmter Verhältnisse.“ Das Individuum werde in seiner Entfaltungsmöglichkeit eingeschränkt. Diese Beschneidung gefährde die Fortentwicklung der Gesellschaft. Claußen sieht ganz im Sinne dialektischen Denkens eine Interdependenz zwischen der optimalen Interessensentfaltung des Individuums und der des Kollektivs.

Da es keine Freiheit von Werten gäbe, müsse man sich im Interesse des Individuums vom emanzipatorischen Interesse leiten lassen, das „sich als Regelfaktor (erweist), der zu verhindern trachtet, daß das Individuum ausschließlich durch gesellschaftliche Ansprüche angepasst wird…“. Dieses emanzipatorische Interesse könne mit einer emanzipatorischen Pädagogik vermittelt werden. „Charakterisiert wird sie in der Anwendung des Prinzips der beständigen Infragestellung … sich stets nach dem Zweck ihrer Maßnahmen fragt und ihre Funktionen nicht als allzeit gültig beschreibt.“

Damit drängen sich zwei Fragen auf:

1.Wie wird ein aktuelles emanzipatorisches Interesse festgestellt?

2.Wie können Erziehungsziele formuliert werden, wenn sie historisch relativ sind?

Die erste Fragestellung will Claußen mit dem Diskurs bewerkstelligen. Von außen sollte einem Individuum oder einer Gruppe keine Interessen aufgezwungen werden. Das jeweilige Kollektiv – auch Schulklassen – soll in einem rationalen Diskurs an dem „alle Mitglieder der Lerngruppe gleichberechtigt partizipieren (und) personelle Herrschaft ausgeschlossen ist“, die Bedürfnisse ermitteln und die Erkenntnislage maximieren. Auftretende Dissonanzen könnten dann „durch Meta-Kommunikation aufgelöst oder doch in ihrer Herrschaft gemildert werden…“. Das sind hehre Ansprüche, die bei den Kollektiven Einsichtsfähigkeiten voraussetzen, die nicht mal im berufspolitischen Diskurs ansatzweise umgesetzt werden. Die Praxistauglichkeit scheint kaum gegeben, der Idealisierungsfaktor ist ziemlich hoch angesiedelt.

Die zweite Fragestellung soll methodenidentisch umgesetzt werden, allerdings orientiert am Leitziel der Emanzipation, wobei dieses, so Claußen, nicht willkürlich sondern wohlbegründet gesetzt werde: „Die Kriterien von Setzungen … lassen sich diskursiv … gewinnen…“. Folgerichtig konstatiert Claußen, diese Kriterien ließen Interpretationsmöglichleiten offen. Deshalb, meint er, „ist … Parteinahme angezeigt.“

Und hier ist die Stelle erreicht, die bis heute noch nicht ausgestritten ist, weil damit die Werthaltigkeit aller Wissenschaft unterstellt wird, denn, so Claußen, der Forscher, der sich der Parteinahme enthalte, sei „indirekt parteilich“. Er verteidigt diese Einsicht, weil wissenschaftliche Parteilichkeit von der Alltagspraxis unterschieden werden könne, da sie „rational zu begründen, in ihren Geltungsansprüchen kritisch zu prüfen oder prüfen zu lassen, flexibel zu handhaben, ggf. aufzulösen und durch andere Inhalte von Parteilichkeit zu ersetzen“ sei.

Auch Apologeten der emanzipativen Pädagogik werden es nicht leicht haben, diese Position sinnvoll zu verteidigen, da diese Vorgaben nicht unbedingt die Differenz zum alltäglichen Meinen klar hervorheben. Das Sinnkriterium dessen, was wissenschaftliche Aufhellung eines Tatbestandes sei, wird damit eher auf eine Ebene verlagert, die sich damit beschäftigt, welche Kriterien an Wissenschaftlichkeit anzulegen seien. Der angestrebten Parteilichkeit bleibt der Opportunitätscharakter haften. Auch ein weiterer Versuch, den Parteilichkeitsanspruch zu rechtfertigen: „Entscheidendes Beurteilungskriterium kann hier langfristig nur die Wirksamkeit nachlassenden menschlichen Leids und der Anteil von Wissenschaft daran sein.“, kann ihn nicht mildern, da Leidensdruck in einer heterogenen Gesellschaft meist von einander konkurrierenden und damit nicht vereinbarten Bedürfnissen abhängig ist. Außerdem dürfte es ein praktisch unmögliches Unterfangen sein, kollektiven Leidensdruck zu quantifizieren, da Claußen ja selbst konstatiert, dass „Bedürfnisse im jeweiligen Kontext und vor dem Hintergrund vorhandener Befriedigungsmöglichkeiten entstehen...“.

Deshalb versucht Claußen seine Argumentationsfigur zu retten, indem er feststellt, der Emanzipationsbegriff könne nur unvollkommen operationalisiert, also in Handlungsanweisungen umgesetzt werden, da die dialektische Denkweise – das Zusammenspiel von These und Antithese hin zur Synthese – dies nicht zulasse: „… die Wahrscheinlichkeit einer ewig notwendig werdenden Befragung von Zuständen und die Suche nach angemessenen Formen als Bedingung fortschreitender Menschheitsgeschichte“ sei zu antizipieren. Also könne „der Emanzipationsbegriff nie allumfassend und operational definiert werden…“. Die Kritiker, so Claußen, könnten diese Konkretisierungshemnisse nur „in offensichtlicher Unkenntnis der aufgezeigten Dialektik“ bemängeln. Damit scheint für Claußen die Dialektik als wissenschaftliches Erkennntnisinstrumentarium nicht infrage zu stehen. Beweisen kann er allerdings nicht, dass jeder a priori anerkennen muss, dass in der dialektischen Triade ein immanentes Bewegungsgesetz der Menschheitsgeschichte vorliegt, mit dessen Anwendung man in die Lage versetzt wird, die Zukunft deutbar zu machen.

Aber auch auf einer anderen Ebene versucht Claußen der Konkretisierung des Emanzipationsbegriffes zu entgehen, indem er sich über ihr Wesen so äußert: „Eine Operationalisierung … widerspräche dem Gedanken der Emanzipation, denn auch sie würde Fremdbestimmung, wenn auch im Namen der Aufhebung von Fremdbestimmung, festschreiben.“ Claußen verfolgt damit einen argumentativen Immunisierungsprozess. Würde er sich im Sinne einer Näherbestimmung des Begriffes auf der Handlungsebene äußern, käme dies – nach seiner Definition – einem anti-emanzipatorischen Verhalten gleich. Folgerichtig stellt er auch für die Erziehung fest: „Aus einem emanzipatorischen Interesse allgemeiner Art lassen sich pädagogische Maßnahmen nicht deduzieren.“ Das klingt doch wie ein Offenbarungseid. Die Verfechter der emanzipatorischen Pädagogik nennen das aber dialektisches Denken. Deshalb stellt Helmut Fend fest: „Wir müssen erst mal nachweisen, daß die pädagogischen Theorien überhaupt handlungsrelevant sind. Es könnte ja sein, daß die ideologischen Hirngespinste ein Eigenleben führen, während die täglichen pädagogischen Handlungen von ideologieunabhängigen praktischen Forderungen geprägt sind.“

Alle nicht eigens zugeordneten Zitate stammen von Bernhard Claußen

Literatur:

Bernhard Claußen: Emanzipatorische Erziehung und Geschlechtsrollenerwerb im Kindesalter, Frankfurt 1977

Bernhard Claußen (Hrsg.): Konzepte einer Kritischen Erziehungswissenschaft, München 1979

Helmut Fend: Die Pädagogik des Neokonservativismus, Suhrkamp 1984

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Achtermann

Ich lass' mich belehren. Jedoch: Oft wehre ich mich dagegen.

Achtermann

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