Killing pills: Zur Systemlogik medizinischer Kollateralschäden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die neuere Geschichte der Medizin ist eine Geschichte der Verachtung der eigenen Vergangenheit bei fast unbegrenztem Optimismus bezüglich gegenwärtiger Möglichkeiten.“

Ruediger Dahlke, * 1951, dt. Arzt und Therapeut

Dementis sind häufig, wenn ein Thema mit unangenehmen Wahrheiten verbunden ist. Die Atomkraft galt lange als sicher, nach Fukushima wird langsam vielen deutlich, wie hoch der Preis für diese Technologie sein werden wird.

Wenn jemand krank ist, gilt es als sicherste Lösung, eine qualifizierte medizinische Betreuung in Anspruch zu nehmen. Die Medizin hat ihr Fukushima-Erlebnis noch vor sich. EHEC mit nicht übermäßig vielen Erkrankten brachte einzelne Einrichtungen an den Rand der Leistungsfähigkeit, es gab jedoch verhältnismäßig wenig tödliche Krankheitsverläufe. Wie ist das generell gesehen?.

Nach Lucian Leape, Professor für Gesundheitspolitik an der Universität Harvard, hat man im Krankenhaus ein Risiko von 1 zu 200, eine schwere oder gar tödliche Komplikation durch Medikamente zu erfahren, im Gegensatz zu einem Risiko von 1 zu 2.000.000, wenn man ein Flugzeug besteigt.

Folgende Links zur Vertiefung:

www.webmm.ahrq.gov/perspective.aspx?perspectiveID=28;www.npsf.org/download/LLI-Unmet-Needs-Report.pdf;www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/aktuell/goetter_in_weiss_sollen_vom_hohen_ross_steigen_1.555407.html;

2 Millionen Menschen erleiden in den USA schwere Nebenwirkungen nach der Einnahme von Medikamenten. 100.000 Patienten sterben daran. Demnach sind schwere Arzneimittelfolgen die vierthäufigste Todesursache in den USA - dicht nach Krebs, Herzleiden und Schlaganfall. (Nature, Bd. 446, S.975, 2007)

www.nature.com/nature/journal/v446/n7139/edsumm/e070426-03.html

Ein drastisches Beispiel von Illustration der Systemlogik, nach der gut gemeintes medizinisches „friendly fire“ tödlich endet, hat Bernhard Lown veröffentlicht:

Viele Fehler (...) könnten vermieden werden, wenn dem Patienten zugehört würde. Kein Beispiel ist lehrreicher und tragischer als das von Betsy Lehman, einer Gesundheitskolumnistin des ,Boston Globe". Sie starb plötzlich im Alter von neununddreißig Jahren im Bostoner "Dana-Farber Cancer Institute" gegen Ende einer außerordentlich belastenden dreimonatigen Brustkrebsbehandlung. Sie erlag nicht ihrer Krankheit, sondern einer massiven Überdosis eines Versuchspräparates gegen Krebs, das ihr Herz zerstörte, als sie im Begriff war, nach Hause zu gehen.

Die Obduktion ergab keine sichtbaren Hinweise auf das Vorliegen von Brustkrebsmetastasen in ihrem Körper. Der ungeheuerliche Irrtum war nicht der Fehler eines einzelnen unerfahrenen und überarbeiteten jungen Arztes - er war ein schrecklicher Fehler, der von wenigstens einem Dutzend Ärzten, Krankenschwestern und Apothekern einschließlich einiger Oberärzte übersehen worden war.

Vier aufeinander folgende Tage hindurch hatte man ihr das Vierfache der erlaubten Maximaldosis verabreicht, aber niemand hatte dies bemerkt. Die Dosis wurde über mehrere Tage verordnet, obgleich die Patientin sich bitter über ihre heftigen Reaktionen auf das Medikament beklagte. Aber niemand hörte zu!Frau Lehman machte ihre Arzte wiederholt darauf aufmerksam, dass irgendetwas schrecklich falsch gehandhabt werde. Aber trotz der Tatsache, dass sie eine wohlbekannte Persönlichkeit auf dem Gesundheitssektor war, wurden ihre Klagen ignoriert. (Richard Knox: Doctor's orders killed cancer patient. Boston Globe, March 23, 1995)

Noch unbegreiflicher ist, dass kurz vor der Lehman-Tragödie eine andere Frau auf ähnliche Weise vergiftet und mit einem schweren und bleibenden Herzschaden zurückgelassen worden war. Das Krankenhaus schrieb diese Tragödie lediglich 'menschlichem Versagen' zu. Diese beiden Zwischenfälle ereigneten sich an einem der angesehensten Krebskrankenhäuser der Welt, einer Parade-lnstitution ftir die onkologische Forschung in den USA. Wenn sich so etwas am Dana-Farber Institut zutragen kann, kann es auch überall sonst geschehen.

Kein Gesundheitssystem bleibt von Fehlschlägen verschont, es sei denn, der Patient steht im Mittelpunkt der Überlegungen all derer, welche die Medikamente oder Maßnahmen anordnen.

Ich kehre zu meiner zentralen These zurück: Unser Gesundheitssystem droht zusammenzubrechen, wenn der ärztliche Berufsstand sein Augenmerk vom Heilen wegbewegt, das damit beginnt, dem Patienten zuzuhören. Die Gründe für diese Verschiebung schließen unter anderem eine romantische Neigung zur unbekümmerten Technologie mit ein, die in großem Umfang als ein Mittel zur maximalen Aufbesserung des Einkommens begrüßt wird. Da es unökonomisch ist, viel Zeit mit dem Patienten zuzubringen, wird die Diagnose mittels Ausschlusskriterien gestellt.

Dies öffnet die Schleusen für endlose Tests und Prozeduren. Klagen wegen ärztlicher Kunstfehler sollten eigentlich als bloße Pusteln auf dem Angesicht eines kranken Gesundheitswesens angesehen werden. Sie sind nicht der Anlass, sondern die Folgen dessen, was die Medizin in den USA kränkeln lässt. Das medizinische Versorgungssystem wird erst dann gesunden, wenn der Patient wieder in den Mittelpunkt des Tagesablaufs eines Arztes rückt.“ (aus: B. Lown: Die verlorene Kunst des Heilens. Frankfurt/M. 2004, S. 194-196)

Jetzt könnte ein Kritiker sagen: Wenn ein Medikament falsch dosiert wird, sei dies nichts, was grundsätzlich gegen den Einsatz von Medikamenten spräche. Es geht jedoch nicht um Überdosierung , sondern um die Nebenwirkungen, die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch von Medikamenten auftreten. Darauf beziehen sich die oben genannten Zahlen!

Giftige Substanzen als Medizin zu verkaufen und dabei horrend zu verdienen, hat seit den Tagen von "Old Bill" Rockefeller, Vater von John D. (dem ersten) in der Pharmaindustrie Tradition: Er verkaufte amerikanischen Bauern abgefülltes Rohöl als Vorbeugungs- und Behandlungsmittel gegen Krebs unter dem Namen "Nujol". Trotz Widerstand aus der Ärzteschaft wurde Nujol mehrere Jahrzehnte lang verkauft. In der Herstellung kostete es die Standard Oil Company 1/5 Cent, der Apotheker mußte 21 Cent dafür hinlegen. (Morris A. Bealle: Drug Story, zit. in Hans Ruesch: Die Pharma Story, München 1998), S 155 f)

Wie oft soll sich noch der Vorgang wiederholen, dass angeblich erfolgversprechende Mittel von der Pharmaindustrie auf den Markt gebracht werden, die behördlichen Prüfungen bestehen, und dann nach einigen Jahren die Pharmafirma selbst das Mittel sang- und klanglos wieder vom Markt nimmt, dann nämlich, wenn die Berichte über Nebenwirkungen zugenommen haben, wie z.B. die Firma Merck mit ihrem "erfolgreichen" Medikament "Vioxx" ( Umsatz in 2003: 2, 5 Milliarden Dollar)?

Es ist ein jeglicher Empirie Hohn sprechender Zustand, wenn durch die seit 1978 in Gang befindliche behördlich vorgeschriebene Nachzulassung von naturheilkundlichen Mitteln, die teilweise seit Jahrzehnten gebräuchlich waren, seit 2005 vom Markt verschwunden, sind und immer noch verschwinden, nur weil die vorgeschriebenen Wirkungsnachweise weder systembedingt noch finanziell leistbar sind, auf der anderen Seite aber der pharmazeutische Markt mit Medikamenten überschwemmt ist und neue zusätzliche Medikamente entwickelt und auf den Markt gebracht werden, die nur unzureichend klinisch erprobt sind, aber kurzzeitig den behördlichen Vorschriften entsprechen.

Das Fazit: Sie können an der besten und hochgelobtesten medizinischen Einrichtung sein, die Sie sich vorstellen können, eines sollten Sie als Patient nie tun: Einfach das einnehmen, was Ihnen gesagt wird. Fragen Sie sich schlau.

Ich wünsche allen gute Gesundheit und im Bedarfsfall den Widerspruchsgeist einer bekannten chinesischen Prinzessin, die später mal Jim Knopf heiraten durfte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

bertamberg

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden