Nach dem Piraten-Sieg: Zittern, dass keiner von Bord geht

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Diese Wahl wird nicht das Ende der Piraten einläuten, sondern der Anfang einer neuen Epoche in ihrer Parteigeschichte sein“, war im Freitag unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl zu lesen. Irgendwas an dieser Prognose muss richtig gewesen sein, denn anders ist der gestrige Erdrutschsieg der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus mit 15 Mandaten und 8,9 Prozent der Stimmen nicht zu erklären – und das aus dem Stand.

Wirklich vorbereitet war darauf niemand, nicht einmal die Piraten selbst. Sie waren mit einer Liste von exakt 14 Kandidaten und einer Kandidatin angetreten, doppelt so viele, wie benötigt werden, dachte man. Drei davon, hieß es, würden ihr Mandat sowieso nicht antreten und lieber andere nachrücken lassen.

Jetzt könnte es Heulen und Zähneklappern geben. Die gewählten Abgeordneten Pavel Mayer, Christopher Lauer, Simon Weiß und Martin Delius arbeiten in derselben IT-Firma, die sie jetzt für 5 Jahre freistellen und ihren Arbeitsplatz erhalten muss – das muss ein junges Startup-Unternehmen erst mal verkraften. Doch Christopher Lauer, ein politisches Talenten mit sicherem Machtinstinkt, wird mit Sicherheit sein Mandat antreten und die anderen überzeugen, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.

Einige Studierende unter den frisch gewählten Abgeordneten müssen sich ebenfalls Gedanken machen, ob sie ihren Abschluss nach einer fünfjährigen Pause noch schaffen können. Und wer bereits in Arbeit steht, könnte feststellen, dass er durch die Diäten weniger Geld hat als vorher. Zwei Kandidaten auf der ursprünglich längeren Liste sind aus diesen Gründen schon vor deren Anmeldung wieder zurückgetreten.

Die 19jährige Abiturientin Susanne Graf kann dagegen ihre berufliche Karriere ohne ersichtliche Nachteile unterbrechen und am 27. Oktober als jüngste Abgeordnete die konstituierende Sitzung gemeinsam mit dem Alterspräsidenten eröffnen. Bis dahin dürfen die Piraten noch zittern, dass keiner von Bord geht.

Auch die Landeswahlleitung hat dieser Erfolg kalt erwischt. Unter wahlen-berlin.de war unter „Ergebnisse im Überblick“ für die Piraten keine eigene Ergebnisspalte programmiert worden, sie werden dort in den 17,2 Prozent „Sonstige“ versteckt. Das sorgte bei den Piraten für Spott und Verdruss über so viel Unflexibilität im digitalen Zeitalter.

Auch das angesehene Leitmedien FAZ verrät heute durch seinen zeitigen gestrigen Redaktionsschluss, dass es das nicht geahnt hat. Als Marie Katharina Wagner gestern ihren Bericht über die „Abgründe einer Blogpartei“ abliefern musste, ging sie noch von 7 bis 8 Mandaten aus, sodass Christopher Lauer, der Spitzenkandidat und Bundesvorsitzender werden wollte, mit Platz 10 für seinen politischen Ehrgeiz „bestraft“ worden wäre. Nun doch in die Fraktion gekommen, könnte ihn sein Machtwillen wieder an die Spitze bringen.

Richtig vorbereitet scheint nur das Ausland gewesen zu sein, wo in über 40 Ländern Parteien ebenfalls unter der Piratenflagge segeln. Zur Wahlparty kamen der Gründer der schwedischen Schwesterpartei und später sogar Seine Exzellenz Marnix Krop, Botschafter des Königreichs der Niederland, dem es bei der SPD-Feier zu langweilig war. Auch die stets wachsame Türkei hat in der vergangenen Woche den Landesvorsitzenden der Piraten zum Empfang von Staatspräsident Abdullah Gül am morgigen Dienstag eingeladen. Gerhard Anger wird sich nun einen dunklen Anzug kaufen müssen.

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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