Präventivjustiz: Wenn der Lynchmob kommt

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Unser Rechtssystem kennt seit 1933 zwei Möglichkeiten, Personen aufgrund von Straftaten einzusperren, die sie erst in der Zukunft begehen werden: Den Maßregelvollzug für psychisch Kranke und die Sicherungsverwahrung für Gesunde. Seit 1998 weiten Gesetzgeber, Gutachter und Justiz diesen potenziell rechtsfreien Raum zunehmend aus. Dies sind ihre Geschichten.

Gibt es ein Demonstrationsrecht vor der Wohnung von Straftätern? Darf die Presse vor Abschluss eines Verfahrens Klarnamen von Straftätern veröffentlichen? Darf ein Landrat Adressen von Straftätern und deren Vorstrafenregister unter Umgehung des Datenschutzes öffentlich bekannt geben? Darf ein Landesminister solche Rechtsverletzungen billigen?

Fragen über Fragen, die der Fall des kürzlich in Heinsberg (NRW) zugezogenen Haftentlassenen Karl D. aufwirft. Einer der Demonstranten vor seinem Haus beantwortet sie alle in einem Satz: „Meiner Meinung nach hat so’n Mensch keine Rechte mehr.“

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Demonstanten in Heinsberg: So'n Mensch hat keine Rechte mehr (Screenshot)

Dass Menschen so über Menschen denken, ist nichts Neues. Und wenn die Presse ihnen suggeriert, die Justiz würde versagen, ruft sie die Selbstjustiz auf den Plan. Auch das nichts Neues.

Das bislang Einmalige ist, wer alles mit ihnen einer Meinung ist. Anders als in Rostock-Lichtenhagen, wo der Lynchmob sich selbst auf die Straße trieb, um seine Hassparole mit den gefürchteten vier Buchstaben herauszuschreiben und Brandsätze hinterzuwerfen, haben die Ankläger, Richter und Vollstrecker in eins, die keinem ein Recht auf Gehör oder Verteidigung gewähren, diesmal sogar Unterstützer bis in höchste Staatsämter hinein.

Zwei volle Jahrzehnte saß Karl D. im Gefängnis, verurteilt wegen der Vergewaltigung von drei 14- und 15jährigen Jugendlichen, die er zudem bis heute abstreitet. In solchen Fällen wird vor der Entlassung die neuerdings mögliche „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ nach § 66 b StGB geprüft. Deren Verhängung stellt jedoch einen so schwerwiegenden Eingriff in das menschliche Grundrecht auf Freiheit dar, dass sie absoluten Ausnahmecharakter besitzen muss. Denn dabei wird der Täter präventiv für Taten bestraft, die er noch nicht begangen hat. Der große Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat das im vergangenen Herbst an hohe Voraussetzungen gekoppelt. Die hielt das zuständige Landgericht in München vorliegend nicht für gegeben. Karl D. war somit unter Führungsaufsicht zu stellen und freizulassen.

„Wenn selbst den Gerichten durch das Recht die Hände gebunden sind, dann nehmen wir eben selbst das Recht in die Hand“, ist der nach solchen Entscheidungen immer auftauchende Gedanke, den diesmal auch der Landrat von Heinsberg hatte. Er informierte am vergangenen Montag in einer Presseerklärung die Bevölkerung, wer da in ihrer Nachbarschaft wohnt und was derjenige getan hat. Sein Vorgehen begründete der Landrat mit seinem „großen Unbehangen“ über die gerichtliche Entscheidung sowie dem Hinweis, „dass sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann empört über die Entscheidung des Landgerichts München äußerte“. Wozu alsobrauchen wir Gerichte, wenn offensichtlich die Exekutive besser weiß, was Recht ist, und das sogar ohne Aktenkenntnis! Gestern schließlich erklärte Pusch gegenüber dem ZDF, warum er hier die Einhaltung von Recht und Gesetz für genauso verzichtbar hielt: „Ich gucke
lieber mal dem Innenminister tief in die Augen, als vielleicht den Eltern eines getöteten Kindes.“

Da Pusch kein Jurist ist, muss ihm dabei auch nicht auffallen, dass D. bisher nie ein Kind getötet und auch keines vergewaltigt oder missbraucht hat. Für die Zukunft kann man das natürlich bei niemandem ausschließen - auch nicht bei Stephan Pusch übrigens. Wer vorsätzlich das Grundrecht anderer auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, der könnte eines Tages – nach derselben Logik - auch andere Rechte missachten, wie soll man das widerlegen?

Juristen messen deshalb dem reinen Konjunktiv keinen Prognosewert bei. Normalerweise zumindest. Nordrhein-Westfalens Innenminister Ingo Wolf (FDP), von Haus aus selbst Jurist, nimmt dagegen den Landrat in Schutz. Wolf hält eine „sachgerechte“ Aufklärung der Bevölkerung jedenfalls dann für „vertretbar“, wenn zuvor schon die Medien das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzt haben, so dass kein Geheimschutz mehr besteht.

Die Hauptverantwortung liegt damit wieder einmal bei den Medien. Und in der Tat: Mit deren Berichten hat alles angefangen. Das ist kein Einzelfall. Was in Heinsberg passiert, zeigt nur einmal mehr, dass der Deutsche Presserat versäumt hat, hier etwas grundsätzlich zu regeln. Vor allem müsste er den Täterschutz in Ziffer 13 seines Pressekodex an die neuen Gegebenheiten anpassen. Dort heißt es noch immer: "Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“

Doch in der Präventivjustiz geht es nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um
Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit. Früher gab es schlichtweg nach Verbüßung einer Strafe kein Verfahren, in dem erneut die Gefährlichkeit von Straftätern geprüft wurde – und deshalb auch keine mediales Interesse an diesem Thema und keine zwei Meinungen darüber, ob sie entlassen werden dürfen. Vorkommnisse wie in Heinsberg waren vor zehn Jahren undenkbar. Von nun an könnten sie in bestimmten Fällen zur ständigen Begleitmusik von Strafentlassungen werden.

Wenn die Presse ihr Berufsethos unter den geänderten Verhältnissen bewahren will, muss sie den Täterschutz so ausweiten, dass neben die Unschuldsvermutung unmissverstehbar die „Ungefährlichkeitsvermutung“ tritt, zumindest bis zum rechtskräftigen Abschluss solcher Verfahren und auch darüber hinaus, wenn keine Gefährlichkeit festgestellt wurde.

Andernfalls werden die Demonstranten wiederkommen – in anderen Städten, bei anderen Fällen, aber mit eskalierender Tendenz.


Der Verfasser hatte beruflich mit der Resozialisierung psychisch kranker Straftäter zu tun. Um die öffentliche Diskussion nicht allein der Springerpresse zu überlassen, erscheinen hier in loser Folge Fallbeispiele und rechtsgeschichtliche Rückblicke, die mögliche Fehlentwicklungen untersuchen und nach Auswegen fragen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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