Vor Gericht: Der Kopfschuss (1)

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Erster Verhandlungstag

Herein kommt ein Mann mit gesenktem Blick: Groß, schlank, dunkelblond kurz geschnittenes Haar, gestutzter Vollbart. Gepflegte Erscheinung: kariertes Hemd, dunkles Jackett, dunkle Hose. Nicht mehr ganz jung, aber doch gut aussehend. Würde man sagen. Würde man sagen, wären da nicht die trüb gequälte Miene, die schweren Tränensäcke, die schwermütige Haltung des gebrochenen Mannes, dem das Schuldbewusstsein ins Gesicht geschrieben steht. „Ein Häufchen Elend“, wie ein Zeuge es später formuliert. Das Unglück hat einen Namen: Lissy ...

Der Angeklagte Thomas H. ist geständig. Er hat seine Frau Elisabeth, seine Jugendliebe Lissy getötet, mit einem Jagdgewehr hinterrücks erschossen. Ein Mord. Nicht aus Hass, Rache oder Eifersucht, wie er erklärt, sondern um ihr Schlimmeres zu ersparen.

Sie war das Liebste, das ich hatte auf der Welt …“

Der Andrang ist wie immer groß am ersten Verhandlungstag. Außer den üblichen Beteiligten – Staatsanwalt, Verteidiger, psychologische Gutachter – sind zwei Nebenkläger, Vater und Schwester des Opfers, mit ihren Anwälten erschienen.

Die 2. Große Strafkammer des Landgerichtes Münster nimmt im Sitzungssaal A 23 ihre Arbeit auf. Die Verlesung der Anklageschrift, dann beginnt der Vorsitzende Richter mit der obligatorischen Befragung des Angeklagten zu dessen Werdegang und privaten Lebensumständen.

Thomas H. ist 52 Jahre alt, verlebte nach eigenen Worten mit zwei Geschwistern eine glückliche Kindheit, der Vater war angestellter Kaufmann, die Mutter Hausfrau. Die Eltern trennten sich, als die Kinder erwachsen waren. Er trieb viel Sport.

Bereits als 17-Jähriger lernte er die zwei Jahre jüngere Elisabeth anlässlich eines Festes auf dem Golfplatz bei einer „Feuerzangenbowle“ kennen. Es war und blieb die große Liebe.

Nach dem Abitur absolvierte er zunächst eine Banklehre. Von 1981 bis 1991 war er an der Uni Münster für Jura eingeschrieben, machte alle Scheine, jedoch keinen Abschluss.

Es war ihm zu langweilig, sagt der Angeklagte heute.

Er jobbte in einer Studentenkneipe, der „Cavete“, mehr zufällig, weil er die Stelle von seiner Schwester erbte.

Elisabeth studierte von 1981 bis 1987 in Münster Medizin. Man lebte gut, man lebte zusammen, vielleicht ein wenig zu sehr in den Tag hinein, zumindest gilt das für ihn. Auch so reichte es für Auto und Skiurlaub.

Elisabeths Vater war Steuerberater, selbständig, anscheinend kam sie aus recht wohlhabenden Verhältnissen. Er bot Thomas H. eine Stellung in seiner Kanzlei an. Dort arbeitete er nach dem endgültigen Abbruch des Studiums einige Jahre als Angestellter, besorgte die Buchführung für die Mandanten.

Das Paar heiratete am 11.11.88, übernahm später das in Erbpacht befindliche Geburtshaus der Mutter der Braut und ließ sich in I. nieder. Der Vater der Braut hatte die Heirat angeregt, aus „steuerlichen Gründen“, eine Formalie, die den jungen Leuten nicht so wichtig war.

Elisabeth machte sich als Teilhaberin einer Gemeinschaftspraxis selbstständig. Dabei blieb es die nächsten 20 Jahre. Die Einkünfte aus der Tätigkeit seiner Frau seien wenig lukrativ gewesen, berichtet der Angeklagte. Grund: Die Praxishilfe war die Frau ihres Partners und schob diesem angeblich die Patienten zu.

1999 stieg Thomas H. in den Weinhandel ein und übernahm ein Geschäft. Das lag ihm. Nicht wegen des eigenen Weinkonsums sondern vom Produkt her, vom Flair, dem Ambiente, der Exklusivität. Er unterschrieb einen Pachtvertrag über 10 Jahre und übernahm außerdem ein umfangreiches Warenlager, beides überteuert, wie er heute meint.

Elisabeth H. zog sich schließlich aus der Praxisgemeinschaft zurück und nahm im Oktober 2010 eine Stelle als Betriebsärztin in Osnabrück an.

Das Paar pflegte einen gewissen Lebensstandard, unterhielt einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Die Ehe blieb kinderlos, unfreiwillig, auf eine Untersuchung zu den Gründen verzichtete man, erzählt der Angeklagte. Stattdessen traten Hobbies in den Vordergrund. Beide spielten Golf und entdeckten ab 2003 die Jagd, für die sich vor allem Elisabeth begeisterte, deren Vater ein eigenes Revier besaß. Das kostete. Vereinsbeiträge, Jagdbeteiligung etc. Es wurden Gewehre angeschafft, etliche Flinten und Kurzwaffen befanden sich im Besitz der Eheleute. Elisabeth wünschte sich eine verlässliche Waffe, ein spezielles Fabrikat, nicht ganz billig, 4.500 Euro gebraucht, „der Mercedes unter den Gewehren“, die Waffe, mit der ihr Mann sie erschoss.

Der einzige Wermutstropfen, der in dieses weithin unbeschwerte, genießende Leben fiel, war der, das die Einkünfte mit dem Lebensstandard nicht mithielten. Schlechte Geschäfte, ein Betrüger, auf den er im Internet hereinfiel und von dem er Ware kaufte, verschärften die Lage. Auch etliche, bei Scotland Yard in London verbrachte Stunden halfen nicht, der investierte Betrag war futsch. Er lieh sich 25.000 Euro von der Mutter, die er bis heute nicht zurückzahlen konnte. Der Schwiegervater schrieb einen ärgerlichen Brief, reagierte mit Unmut, weil die Pacht für den Weinhandel nicht pünktlich kam, der Verpächter war sein Mandant. Weil man die Raten für die private Sozialversicherung schuldig blieb, mussten zwei notwendige Operationen Elisabeths für jeweils 4.000 Euro aus eigener Tasche bezahlt werden. Er lieh sich 15.000 Euro vom Vater, eine Lebensversicherung über 40.000 Euro wurde aufgelöst und nach Auslaufen des Pachtvertrags das Weingeschäft vom Ladenlokal ins Privathaus verlegt, um Kosten zu sparen. Schließlich trat der Gerichtsvollzieher auf den Plan. Für Thomas H. begann eine Zeit des Schreckens, die Vertreibung aus dem Paradies. Manchmal stellte er die Klingel ab, um nicht zu Hause zu sein, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand.

Wenn Sie ein halbes Jahr nicht geschlafen haben, weil Sie die Schulden die Bettdecke hochkommen sehen ....“, erklärt er seinen damaligen Zustand.

Dennoch sprach er mit niemanden über die angespannte Situation, um das Gesicht und den Schein zu wahren. Nur seine Frau habe von der prekären Lage gewusst, jedoch sei er für die Regelung der finanziellen Dinge zuständig gewesen.

Geld war uns nicht so wichtig, wir hatten unsere eigene, kleine Welt.“

So lebte man von der Hand in den Mund und häufte langsam aber stetig einen Berg Schulden an, der sich zum Schluss auf ca. 68.000 Euro plus der von den Eltern geliehenen Beträge belief.

Dann geschah Folgendes. Der Angeklagte ertrug die Schuldenlast nicht mehr und begann mit dem Gedanken an Selbstmord zu spielen. Aus diesem Grund stand er in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 2011 auf und betrat das mit dem seinen durch eine offene Tür verbundene Schlafzimmer seiner Frau. Diese schlief bereits. Er legte auf sie mit dem mitgebrachten Jagdgewehr an, fürchtete jedoch, sie im Licht der Lampe nicht richtig zu treffen. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht ging er am nächsten Morgen um ca. 6 Uhr im Bademantel, das schussbereite Gewehr wieder in der Hand, die Treppe vom ersten Stock ins Erdgeschoss hinunter. Dort saß seine Frau, die um halb sechs aufstehen musste, auf einem Sofa im Wohnzimmer und hatte es sich mit Zeitung und Frühstückskaffee bequem gemacht. Auch sie war noch im Morgenrock. Auf die nahenden Schritte ihres Mannes in ihrem Rücken achtete sie vermutlich nicht, weil dies zur täglichen Routine gehörte. Der Angeklagte feuerte einen Schuss ab, der ihr die hintere Kopfhälfte wegriss und Blut und Hirnmasse durch den Raum verteilte. Anschließend kleidete er sich an, fuhr zum Haus eines Bekannten und kettete einen Hund, der ihm und seiner Frau gehörte, auf der Terrasse an. Er hinterließ ein Schreiben an den Sohn des Bekannten, in dem er diesem das Tier anvertraute. Danach fuhr er, so seine Aussage, zu einem Parkplatz, um sich selbst zu töten. Als dies nicht gelang, suchte er um ca. 6.45 Uhr die nächste Polizeidienststelle auf und stellte sich dem ungläubigen Beamten mit den Worten: „Ich habe heute morgen meine Frau umgebracht ....“


Das Motiv: Er habe seine Frau nicht mit den Schulden zurücklassen wollen. Und sie hätte so auch nicht weiterleben wollen. Sie wäre mit der Situation nicht zurechtgekommen. Er habe keine Perspektive mehr gesehen …

„Sie hätte es nicht ertragen, wenn ich mich allein umgebracht hätte ...“

So oder so ähnlich.

Es geht ihm um den emotionalen Gleichklang mit seiner Frau, um eine Übereinstimmung, die er auch bei ihr voraussetzte.

Ironischerweise wurde bei der Festnahme ein Geldbetrag in Höhe von 2.645 Euro bei ihm sichergestellt, der für den Gerichtsvollzieher bestimmt war.

Ob noch andere Dinge außer Geld im Spiel waren?

Warum löschte er, bevor er nach der Ermordung seiner Frau das Haus verließ, verschiedene Dateien vom Computer, fragt der Vorsitzende Richter.

Er wisse es selber nicht, antwortet der Angeklagte. Er verstehe ohnehin nichts von Computern, habe auch keine Dateien sondern ganze Programme gelöscht. Man werde auch im Falle einer Wiederherstellung der Daten nichts Verdächtiges finden.

In der Küchenpsychologie wird behauptet, dass vor allem Männer, die sich ihrer Männlichkeit nicht sicher sind, einen Vollbart tragen. Dies solle den maskulinen Eindruck stärken. Wie dem auch sei, man weiß nicht, ob dem Angeklagten bewusst ist, wie fürchterlich sich seine Geschichte anhört. Fürchterlich anachronistisch. Man möchte ihm zurufen, „Junge, wo lebst du denn, wir sind doch hier nicht mehr bei ,Werthers Leiden' ...“

Die Polizeibeamten sagen aus, berichten darüber, wie sich der Angeklagte gestellt hat, in welcher Verfassung er war. Einer von ihnen ist ein Jagdkollege des Angeklagten. Er ist es auch, der sagt, Thomas H. sei wie ein Häufchen Elend auf dem Revier erschienen. Ein Spurensicherer beschreibt den Zustand des Wohnzimmers, die mit Blut, Gewebe und Hirnmasse übersäten Einrichtungsgegenstände, die 40 verschiedenen Knochenteile, die man fand. Das Gewehr wird besichtigt, Beschaffung, Preis und Funktionsweise erläutert.

Es ist vor allem die Summe, die Befremden und Verwunderung erregt. Der Vorsitzende Richter merkt an, er habe früher einer Wirtschaftsstrafkammer vorgestanden und kenne Leute, die auch mit Millionenschulden noch gut schliefen und gleich wieder das nächste Unternehmen gründeten. Gut, für einen Hartz-IV-Empfänger mag ein Betrag von 68.000 Euro schwindelerregend hoch sein, aber für Menschen mit halbwegs geregeltem Einkommen ist diese Größenordnung vielleicht nicht gerade ein Klacks, aber doch auch kein Anlass Hand an sich zu legen. Gerade hatte seine Frau eine neue, feste Stelle als Ärztin angetreten, bezog immerhin einen Nettoverdienst von 3.000 Euro und freute sich anscheinend über das berufliche Weiterkommen. Der Anwalt der Nebenklägerin weiß zu berichten, es habe sogar Aussicht auf eine Beförderung, auf einen Aufstieg auf eine bessere Position bestanden. Nicht zu vergessen das geerbte Haus. Das pietätvolle Argument, dies habe mit Rücksicht auf die Schwiegermutter weder veräußert noch belastet werden dürfen, mutet nachgerade abstrus, verschroben, hanebüchen angesichts des Ergebnisses von soviel feinsinnigen Skrupeln an.

Im Raum steht die subjektive Gewissheit des Angeklagten, seine Lissy wäre mit seiner Tat – bzw. der ursprünglich von ihm geplanten, vollendeten Tat – einverstanden gewesen. Die Innigkeit der Beziehung ist seine Legitimation, jenseits ihres unbestreitbaren Rechtes auf Leben. Dem haftet eine vormoderne, kompromisslose Hochgespanntheit des Gefühls an, wie fast immer, wenn es um Konzeptionen des erweiterten Suizids geht. Was spricht dafür, dass Elisabeth H. dieses aus der Zeit gefallene Lebensgefühl ihres Mannes wirklich teilte? Was dagegen, dass sie auch ohne ihren Mann, von Familie, Freunden und Kollegen getragen, wieder Freude am Leben hätte finden können? Der Angeklagte wollte dies womöglich nicht wahrhaben, die Gutachter werden sich sicher noch damit befassen.

Und wenn er ihr so nahe war, warum brachte er den Hund nicht vorher weg und vollendete die Tat an Ort und Stelle?

Warum der Versuch Kilometer entfernt auf einem Parkplatz?

Bisher will sich jedenfalls aus den noch spärlichen Informationen über die Tote weder das Bild des armen Hascherls, das an die Hand genommen werden musste, noch das einer „Kameliendame“, die seelisch am Verlust des Liebsten zerbrochen wäre, so richtig einstellen. Eher kann man eventuell den Eindruck gewinnen, sie sei vielleicht von Haus aus ein wenig verwöhnt gewesen und der Angeklagte, ihr Ehemann, habe sich schwer getan ihr etwas abzuschlagen, um nicht vor ihr und dem übermächtigen Schwiegervater als Versager dazustehen. Ein idealer Begleiter, aber nicht jemand, der selber die Initiative ergreift.

Sie habe soviel Freude aus der Jagd bezogen, rechtfertigt er die Ausgaben.

Auch der letzte Urlaub, eine Woche Dänemark, vier Wochen vor der Tat im September 2011, war unter dieses Motto gestellt: „Wir genießen jetzt die Woche … Es war wunderschön.“

Doch selbst wenn das Bild stimmt und sie eine Frau war, die wenig eigene Entscheidungen traf, zu ihrem Mann aufsah und sich auf ihn verließ, ist nicht gerade dieser Frauentyp derjenige, der am schnellsten einen neuen Beschützer an der Seite hat?

Doch der Angeklagte will sich die Attitüde des negativen Heroismus nicht nehmen lassen. Wenigstens bei den Konsequenzen seiner Tat will er Größe zeigen. Seht her, ich stehe zu meiner Schuld, ich leugne nichts, ich nehme alles auf mich, mein Leben ist ohnehin zu Ende, bis ans Ende meiner Tage kann ich nur noch leiden, bereuen und büßen. Es ist diese Haltung einer verspäteten, kompensierenden Tapferkeit, die ständig aus ihm spricht.

Als der Vorsitzende Richter die Formulierung verwendet, „in dem Raum, in dem es passiert sein soll ...,“ verbessert er mit brüskem Nachdruck:

Nicht geschehen sein soll sondern geschehen ist.“

Natürlich, klar, er muss es wissen ...

Und als der Vorsitzende Richter ihn wenig später auf sein Handicap beim Golf anspricht, bekanntlich ein Terminus für das erreichte Niveau, antwortet er fast barsch:

Ist das wichtig?“

Und gleich mehrfach wiederholt er hilflos den Satz: Wenn er damals gewusst hätte was er heute weiß, wenn er damals die Einsicht gehabt hätte, die er heute hat – dann, ja dann …

Aha. Soll heißen, dann wäre alles ganz anders gekommen. Ach wirklich? Der Angeklagte hatte schwache Nerven, ist kein Kämpfer und hat den Druck nicht mehr ausgehalten. Das ist menschlich verständlich, wer wollte sich darüber erhaben fühlen. Auch dass er sich nach einem Ausweg sehnte, eine Art außerirdischer Lösung anstrebte, ohne weitere Anstrengung, ohne Mühe, ohne Selbstwertverlust, ohne Demütigung, ohne sich klein zu machen, mag eine individuelle Entscheidung sein. Doch was tut ein Mensch, wenn er plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommt. Er schickt jemanden vor. Er schneidet sich selbst den Rückweg ab. Man baut sich eine ausweglose Situation, so dass man nach menschlichem Ermessen einfach nicht mehr anders kann. Er tötete seine Frau, um sich damit gewissermaßen selbst zum Selbstmord zu zwingen. Zu dumm nur, wenn es dann doch nicht klappt, wenn die ganze schöne Selbstüberlistung am Ende doch nicht funktioniert. Wäre man nicht ein höflicher, wohlerzogener Mensch, man möchte entrüstet ausrufen: Was für ein beschissener Typ ….

Der erste von voraussichtlich 3 Prozesstagen, Fortsetzung folgt.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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