Im feministischen Sprachgebrauch gibt es den Begriff Schutzraum. Die folgende Geschichte erzählt von einem ganz speziellen Schutzraum.
1. gender
Das Kind steht vor den Toilettenräumen. Eine Tür mit einem roten Frauen-Mantschgerl, eine Tür mit einem blauen Männer-Mantschgerl. Dem Kind pressiert es schon, darum öffnet es die entsprechende Tür, betritt den Toilettenraum, schaut sich rasch um. Niemand zu sehen. Das Kind geht zu den Kabinen. Drei Stück: weiß, weiß, weiß, das Kabinenschloss. Niemand da: gut. Das Kind begibt sich in die hintere Kabine und dreht das Schloss. Es versichert sich nochmals, dass abschlossen ist: rot von außen. Jetzt höchste Zeit: Klodeckel auf, Hose runter, draufsetzen.
Die Tür geht auf, jemand kommt herein. Das Kind wird hellhörig: Schritte, Reißverschluss, Plätschern. Dem Kind steigen Erinnerungen auf. Neulich ist dem Kind beigebracht worden, wie man in Männertoiletten im Stehen bieselt. Wie ein richtiger Mann halt. Das Ergebnis: Schimpf und Schande.
Das Kind lauscht, bis der Eindringling den Raum wieder verlassen hat. Dem Kind werden jetzt seine Bauchschmerzen vom ängstlichen Verdrücken bewusst. Okay, niemand mehr da. Und es läuft. Danach: Aufstehen, Hose rauf, Deckel runter, Spülung drücken. Tür auf, schnell raus. Wieder einmal geschafft: Erleichterung.
Das Kind sieht ein anderes Kind in die Frauentoilette gehen. Neid kommt auf, dann Traurigkeit. Die Erleichterung ist schon wieder verflogen.
2. post-gender
Das Kind ist allein daheim. Die Familie zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Das Kind begibt sich zum Badezimmer, bleibt an der Tür kurz stehen, denkt sich daran ein rotes Frauen-Mantschgerl. Rot wie ein Kabinenschloss von außen. Das Kind ist jetzt das andere Kind. Es geht hinein. Kein Neid, keine Traurigkeit. Erleichterung.
Der Schutzraum
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