Romanzen für die Politik

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Ein Schiff vor Anker liegt keinesfalls fest an einem Ort: Schwojen, so erklärt Wikipedia, bezeichnet das Hin- und Herdrehen eines Schiffes vor Anker oder Ankerboje.


Jakob Augstein eröffnet am gestrigen Abend den Freitag Salon zum Thema „Blühende Landschaften 1990/2010“ mit diesem Fetzen Hamburger Seefahrtsjargon, könnten wir bei dieser Materie doch nicht mehr tun als um einen Punkt zu driften. Aber immerhin sei dabei die Aussicht zu genießen.
Von mir aus, mitte links im Zuschauerraum, gestaltet sich die Aussicht wie folgt: ein wie meistens warm lächelnder Christian Ströbele, ernsthafter schon die Journalistin und Zonenkinder-Autorin Jana Hensel, ein weiteres Stück gealtert Hellmuth Karasek und daneben Roland Claus, MdB und Ost-Experte der Linken, asketisch und mit dem latenten Charme des Ost-Akzents. Sie alle rahmen, mehr oder weniger hübsch und brav, den Moderator ein, der sie im Laufe des Abends um Kohls Utopie und die Realität des Aufbau Ost driften lässt.

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[Bild: Kevin Mertens]

Ströbeles Skepsis gegenüber der versprochenen Blütezeit für die neuen Bundesländer setzt Karasek entgegen, dass die Landschaften vielleicht nicht industriell, wohl aber durch den Aufbau von Städten und die Vielfalt der Natur blühten. Seit die Dresdener Frauenkirche wieder stünde wäre das mittlerweile geflügelte Wort des Altkanzlers für ihn Realität geworden. Dabei stellt keiner der Anwesenden in Zweifel, dass nicht alles heute glänzt, was im Laufe der zwanzig Jahre unter dem Titel „Aufbau Ost“ unternommen wurde. Dass es trotzdem gelingt, eine wortgewandte Diskussion aufzuführen, ist nicht unbedingt Karaseks Verdienst. Auch wenn er sich mit feuilletonistischem Geschwurbel (der ihm eigenen dubiosen Kunst, die sprachlichen Einflüsse seiner Karriere zur Unkenntlichkeit zu verweben) wie immer alle Mühe gibt. Wenn Jana Hensel in einfachen, schönen Sätzen über Sinn und Identität von Zukunftsprojekten („Der Aufbau Ost ist ein Zukunftsprojekt, genauso wie der Sozialismus eines war“) spricht, Roland Claus die Utopie Helmut Kohls zur Befreiung der SED erhebt und Ströbele fragt, wem denn jetzt eigentlich die Landschaften blühten (den West-Hoteliers auf Usedom?), geben sie der Veranstaltung Drive. Ein Punkt geht allerdings doch auf Karaseks Konto: seine kleine Philosophie über die Kardinaltugend Helmut Kohls – raumgreifend sein – sorgt für kurzfristige Erheiterung.


Bei Verlassen der Veranstaltung, der Zigarette danach vor der Tür, habe ich nicht das Gefühl, dass viel Neues über die Realität der neuen Bundesländer gesagt wurde. Dafür über einen feinen Abschnitt romantischer Politikgeschichte: Des Altkanzlers Traum als letzte große Prophetie der deutschen Politik. Und dass wir, was immer man davon retrospektiv halten mag, zwischen von der Leyen und Westerwelle dringend neue Romanzen brauchen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Eva Ricarda Lautsch

Cocktailkirschen zwischen dem Papier // Studentin, Bloggerin, Schreibtischgast @derfreitag.

Eva Ricarda Lautsch

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