Ungarn – faschistische Diktatur oder linke Verschwörung?

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Ungarn – faschistische Diktatur oder linke Verschwörung?Wenn Ungarn hierzulande in den Medien auftaucht, dann fast ausschließlich mit negativen Schlagzeilen. Glaub man der allgemeinen Berichterstattung, so entwickelt sich dort eine totalitäre bis faschistische Diktatur. Glaub man der ungarischen Regierung, ist alles eine internationale Verschwörung linker und (ex-) kommunistischer Kräfte. Hierin liegt die Problematik: Glauben bedeutet nichts wissen. Beide Theorien sind nämlich gleichermaßen völliger Unsinn. Die internationale Debatte ist völlig überladen mit Polemik und Emotionen.
Ein Kommentar von Peter Schuld

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Orbán & Barroso; Quelle: EU / Cornelia Smet

Als im Dezember 2010 von der Regierung unter Ministerpräsident Victor Orbán (Fidesz), welche über eine 2/3-Mehrheit im Parlament verfügt, das neue Mediengesetz verabschiedet wurde, war das ansonsten in der westlichen Medienwelt kaum beachtete Ungarn plötzlich auf zahlreichen Titelseiten: „Ein skrupelloser Führerstaat entsteht“ (Die Welt), „Es stellt Zensur wieder her“ (Süddeutsche Zeitung) und die taz fühlte sich gar „an die Machtübernahme der Nazis erinnert“. Auch in Ungarn selbst erschienen einige oppositionelle Zeitungen mit einer leeren Titelseite, auf der lediglich die Aussage „Die Pressefreiheit wurde in Ungarn abgeschafft“ zu lesen war.
Nazi-Vorwurf verhindert sachliche Debatte
Die tatsächliche Sachlage ist dann allerdings komplizierter gestrickt. Besonders die letzte Aussage lässt sich heute mit einem kurzen Blick auf die ungarischen Tageszeitungen wiederlegen. Sowohl die linksliberalen Qualitätszeitungen als auch viele kleine Blätter sparen in keiner Weise mit Kritik an der amtierenden Regierung. Und auf die reißerischen Aufmachungen der Beiträge in Deutschland folgten oftmals leider sehr inhaltsleere Artikel. Jedenfalls ging aus kaum einer Darstellung hervor, was dieses ominöse Mediengesetz eigentlich ist und vor allem was genau es beinhaltet.
Am vorliegenden Beispiels lassen sich wunderbar die Gefahren einer polemischen Hetze mit dem Nazi-Totschlagargument beobachten: Zum einen wird ein bedenkliches Klima der Diffamierung geschaffen, zum anderen wird jede Form von sachlicher und konstruktiver Kritik bereits im Keim erstickt. Wer nicht komplett dagegen ist, unterstützt automatisch faschistische Kräfte. Dabei forder das Mediengesetz im Kern lediglich eine ausgewogene Berichterstattung (welche es ironischer Weise selbst kaum erfahren hat).
Keine inhaltliche Auseinandersetzung

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Quelle: Aaron Taylor / Budapester Zeitung

Ohne Zweifel gibt es einige Aspekte daran, die kritisch sind, über die aber kaum inhaltlich diskutiert wurde. Dies betrifft in erster Linie die vagen Formulierungen, welche einen teilweise zu großen Interpretationsspielraum lassen. Ebenso bleiben zahlreiche Details bezüglich der Umsetzung einzelner Vorschriften ungeklärt. Außerdem weist die Personalstruktur der Nationalen Medienbehörde NMHH, welche bei Verstößen befugt ist empfindliche Geldstrafen zu verhängen, viele Anhänger der Regierungskoalition Fidesz-KDNP auf.
Alles in allem ist es trotzdem sicherlich nicht Ziel des Gesetzes, alle regierungskritischen Medien auszuschalten. Dazu hätte die NMHH beim besten Willen nicht genug Macht. Es ist vielmehr die juristische Ungewissheit bei der Auslegung der Vorschriften, welche Besorgnis erregend ist und so zumindest unter gewissen Umständen die Gefahr der Selbstzensur mit sich bringen kann. Das ist schlimm genug und muss beanstandet werden, ein Grund zur maßlosen Übertreibung ist es jedoch nicht. Eine tatsächliche Zensur, wie zum Teil berichtet wurde, findet jedenfalls weder vorher noch nachher statt.
Das ungarische Verfassungsgericht hat inzwischen selbst Teile des Mediengesetzes kassiert, weil entweder genaue Verfahrensvorschriften fehlten, einzelne Paragraphen zu allgemein waren oder die Befugnisse der Medienbehörde „in verfassungswidriger Weise ausgeweitet wurden“, so die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Ein Vorgang, der in Deutschland Ausdruck für eine gut funktionierende und wehrhafte Demokratie ist, wurde im Fall Ungarns zu einem weiteren „Beweis“ für die diktatorischen Bestrebungen der Regierung.
Regierung kontert mit absurder Verschwörungstheorie
Wie konnte es zu einer so verzerrten Darstellung kommen? Fragt man Orbán und seine Anhänger, ist alles lediglich eine linke Verschwörung. Auch diese völlig undifferenzierte und platte Aussage entspricht nicht den Tatsachen. Sie scheitert bereits daran, dass unsachliche Äußerungen nicht nur von links kamen. Und für eine koordinierte Aktion gibt es erst recht keine Hinweise. Diese Theorie ist aber eine bequeme Erklärung und findet im Regierungslager großen Anklang, weil sie es ermöglicht, so der sachlichen Kritik ebenfalls aus dem Weg zu gehen. Für Außenstehende mag diese Verschwörungstheorie zwar absurd anmuten, in Ungarn findet sie hingegen viele Anhänger. Dies hat zwei Gründe.
Zuerst einmal fühlen sich viele Ungarn durch die unangemessenen sowie unsachlichen Anfeindungen aus dem Ausland tatsächlich vor den Kopf gestoßen. Des Weiteren schaffte es Orbán in sehr geschickter Weise, sämtliche internationalen Angriffe auf seine Regierungspolitik als Angriffe auf ganz Ungarn darzustellen. Dadurch hat er sich im Inland bis zu einem gewissen Grad gegen Kritik immunisiert. Dies wurde wiederum erst durch die Schärfe und Polemik ebenjener Kritik möglich.
Medien pflegen Ungarn-Feindbild

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Nachdem die Regierung in Budapest international ihren Ruf weg hatte, wozu sicherlich auch ihre desaströse Kommunikationsarbeit mit der EU beigetragen hat, wurden bedauerlicherweise oftmals die Fakten an das aufgebaute Feindbild angepasst. Negative Schlagzeilen sind eben besser zu verkaufen. Aus einer nationalkonservativen Regierung wurden rechte Kräfte und die neue Verfassung, welche Anfang des Jahres in Kraft trat, in ihrer Gänze als Angriff auf demokratische Grundwerte dargestellt. Zwar lassen sich der Entstehungsprozess und – wie bei fast jeder wichtigen Entscheidung in jedem Land – einige Details kontrovers diskutieren, an der Legalität und demokratischen Konformität ändert sich dadurch jedoch nichts.
Osteuropa spielt in unseren Medien nur eine untergeordnete Rolle. Es ist logisch, dass dadurch vieles lediglich verkürzt dargestellt werden kann. Informationen dürfen allerdings trotzdem nicht völlig ungeprüft einfach von oppositionellen Quellen und Zeitung in Ungarn übernommen werden, besonders weil das dortige Mediensystem wesentlich stärker polarisiert und parteinah ist als hierzulande. Die sich aus dieser Praxis ergebenden Konsequenzen sowie politische Vorurteile mancher Journalisten führen gegenwärtig zu einer gefährlich tendenziösen und einseitigen Darstellung. Es gibt beispielsweise keinen Grund, weswegen die große Anti-Regierungsdemonstration zum Jahreswechsel (gerechtfertigter Weise) auf ein großes internationales Medienecho traf, der nochmals deutlich größere Friedensmarsch drei Wochen später für die Regierung und gegen die unangemessene Behandlung Ungarns im Ausland (ungerechtfertigter Weise) aber totgeschwiegen wurde.
Jan Mainka, Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung, hat diese Form der unangemessenen Berichterstattung vor allem in Deutschland schon vielfach beklagt. Er ist von dem neuerlichen Fall nicht verwundert, „schließlich gab es bei dieser Demonstration nichts, womit man gängige Orbán-Ungarn-Klischees in westlichen Redaktionen hätte bedienen können. Unter den Demonstrierenden gab es keine Neonazis, keine rassistischen Sprüche und es wurden keine EU-Fahnen verbrannt wie eine Woche zuvor auf einer Kundgebung der rechtsradikalen Partei Jobbik.“

Ungarn steht am Rande des Abgrunds
Bei den Wahlen 2010 stand Ungarn nach 8 Jahren beispielloser Misswirtschaft und Korruption durch die sozialistische Partei MSZP am Abgrund. Die meisten Ungarn waren sich damals sicher, es könne mit egal welcher anderen Regierung nur noch besser werden. Nach weniger als 2 Jahren hat es der Fidesz geschafft, viele Menschen (auch mich) vom Gegenteil zu überzeugen. Das Kabinett Orbán ist kurz davor, Ungarn endgültig in den Abgrund zu stoßen. Orbán selbst verfügt über das politische Feingefühl einer Dampfwalze und sein Amok laufender Wirtschaftsminister György Matolcsy ist auf dem besten Weg, das Land in den finanziellen Ruin zu pfuschen.
Anstatt diese dramatische Entwicklung zu diskutieren und Lösungen zu suchen, wird dies erneut in das bestehende Feindbild eingearbeitet und je nach Lesart mehr oder weniger deutlich als weiterer „Beweis“ gewertet, Ungarn sei eine Diktatur. Dabei sollte hinlänglich bekannt sein, dass zwischen politischem und wirtschaftlichem System kein Zusammenhang besteht. Griechenland beispielsweise ist de facto bankrott, Spanien, Portugal und Irland wanken bedenklich. China hingegen boomt und avanciert in vielerlei Hinsicht zur Großmacht. Jedoch wird deswegen kaum jemand China als Musterbeispiel für eine Demokratie heranziehen.
Ungarn-Hetze hilft nur den tatsächlich Rechten
„EU-Europa kann und wird nur funktionieren, wenn die Kommunikation untereinander stimmt und man sich mit Respekt begegnet. Im Fall von Ungarn ist beides empfindlich gestört“, schreibt Mainka weiter. Damit hat er sicherlich recht. Solange weiterhin alles was aus Budapest kommt pauschal als faschistisch, rassistisch oder antidemokratisch abgetan wird, ist keine Besserung zu erwarten. Es geht nicht darum keine Kritik mehr zu üben, sondern dies in einer sachlichen und angemessenen Art und Weise zu machen. Andernfalls riskiert besonders die Europäische Union, bei den Ungarn noch mehr traumatische Erinnerungen an die Bevormundung durch die Sowjetunion zu wecken.
Eine unbeabsichtigte aber traurige Nebenwirkung der gegenwärtigen Situation ist: All dieses undifferenzierte Ungarn-Bashing steigert nur den Frust der freiheitsliebenden Magyaren und treibt sie zunehmend in die Hände der tatsächlich rechtsradikalen und EU-feindlichen Partei Jobbik. Diese erhielt bei Meinungsumfragen zuletzt rund 20% der Stimmen.

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