"Betondecke des Egoismus"

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„Salzburger Festspiele mit Gauck-Rede eröffnet“, meldete die Nachrichtenagentur am vergangenen Mittwoch. Und wenig später: „UN starten Luftbrücke nach Somalia“. Die Gleichzeitigkeit beider Nachrichten ist Zufall. Und ist es auch wieder nicht. Hätte an jedem Tag - wie vorgesehen - der Menschenrechtler und Globalisierungskritiker Jean Ziegler die Eröffnungsrede gehalten, hätte er Somalia und Festspiele, Hunger und Reichtum in Zusammenhang gebracht. Offenbar in einen unerwünschten. Stattdessen spricht Joachim Gauck von Verantwortung. Allerdings nicht seiner.

Denn Ziegler wurde erst ein-, dann wieder ausgeladen. Letzteres „allem Anschein nach auf Druck einiger, besonders schweizerischer Großkonzerne und Großbanken, die zu den wichtigen Sponsoren gehören“, sagt der Schweizer in einem Youtube-Video, bevor er dort auf Einladung der Aktivisten der "Plattform Zivilgesellschaft" seine nichtgehaltene Rede liest. Auf sueddeutsche.de ist sie im Wortlaut dokumentiert, zudem als „Der Aufstand des Gewissens“ im Ecowin Verlag erschienen. (16 Seiten kosten 250 Euro).
Unterstützer haben sie an das Festspielpublikum verteilt. Das konnte lesen: „Viele der Schönen und der Reichen, der Großbankiers und der Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind die Verursacher und die Herren dieser kannibalischen Weltordnung.“

Der 77-jährige Ziegler rechnet vor: „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37 000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.“ Seine Schlussfolgerung: „Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Doch fehle das Geld für die intravenöse therapeutische Sondernahrung, die ein Kleinkind, wenn es nicht zu sehr geschädigt sei, in 12 Tagen ins Leben zurück bringe. Das Geld fehle, weil „die reichen Geberländer - insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien - viele tausend Milliarden Euro und Dollars ihren einheimischen Bank-Halunken bezahlen mussten: zur Wiederbelebung des Interbanken-Kredits zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für die humanitäre Soforthilfe (und die reguläre Entwicklungshilfe) blieb und bleibt praktisch kein Geld.“

Weil eine Tonne Getreide etwa heute auf dem Weltmarkt 270 Euro koste, doppelt so viel wie im Vorjahr, haben weder Äthiopien, noch Somalia, Djibouti oder Kenia Nahrungsmittelvorräte anlegen können - „obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war“.

Und dann hat Ziegler einen Traum: „Die Musik, das Theater, die Poesie - kurz: die Kunst - transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen, welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die dickste Betondecke des Egoismus, der Entfremdung und der Entfernung. Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte Emotionen.“ Das hätte in Salzburg geschehen können. Doch Ziegler erwacht: „Kapital ist immer und überall und zu allen Zeiten stärker als Kunst."

Im Februar war er eingeladen worden, die Salzburg-Rede zu halten, Ende März folgte die Ausladung. Als Grund nannte ein Sprecher von Landeshauptfrau Gabi Burgstaller damals Vorbehalte gegen den populären Intellektuellen wegen dessen möglichen Nähe zu Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi. Das war damals schon so durchsichtig, dass Joachim Gaucks In-die Bresche-Springen fatal erscheint.

Wir wissen, sagt der Ex-Bürgerrechtler in seiner Rede, „dass wir weder zum Tun des Bösen noch zum Leben des Nichtigen geboren sind. Auch wissen wir, dass wir hinreichend oft in unserem Leben eine Wahl haben – nicht immer nur zwischen Gut und Böse, oft aber zwischen Besser und Schlechter, selbst- oder fremdbestimmt. Und wir wissen, dass wir Hilfen brauchen, d i e Wahl zu treffen, die uns und anderen hilft, ein Mensch zu werden.“ Und er spricht, worüber er immer spricht: seine Erfahrungen in oder mit der DDR.

So bleibt auch er nicht unpolitisch, fordert auch er Courage. Doch eigentlich hätte es schon genügt, er hätte sich geweigert, Ziegler zu ersetzen. Oder er hätte ihm eine Stimme eingeräumt. Stattdessen sagt er Sätze wie diesen: „Und damit unsere dürstenden Seelen in den unwirtlichen Ebenen der Politik überleben können, haben wir die Künste.“ Und spricht allen Ernstes von der „Tristesse des Alltags“. Salbungsvolle Worte, die sicher auch ihre Berechtigung haben, die aber angesichts der Um- und Zustände in Salzburg wie in Afrika nicht nur banal, sondern zynisch anmuten.
Gauck endet mit „Der Freiheit der Erwachsenen, die wir bei ihrem Namen nennen: Verantwortung.“ Jean Ziegler nimmt sie wahr mit Brechts „Mutter Courage“:
Es wird der Tag, doch wann er wird,
Hängt ab von mein und deinem Tun.
Drum wer mit uns noch nicht marschiert,
Der mach' sich auf die Socken nun.“

(dieses blog ist zuerst erschienen auf www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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