"Gerade wir als Deutsche"

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Marcel Reich-Ranicki (90) bekommt die Ehrenmedaille des Ludwig-Börne-Preise für sein Lebenswerk. Das ZDF überträgt live aus der Frankfurter Paulskirche, die Branche feiert ihn und sich. Und Henryk M. Broder nutzt das Podium für eine Laudatio, in der er mahnt, dass es damit nicht getan sein sollte.

Er könne, sagt Broder, der Versuchung nicht widerstehen, über ein Thema zu sprechen, das ihm wie kein anderes am Herzen liege. Dass er sich aber auch damit vor dem Geehrten und dessen Leben verneige. Es geht um Israel. Denn wenn er nicht nur MRR sondern auch Ludwig Börne gerecht werden wolle, "dann kann diese Ehrung nicht in einem luftleeren Raum, quasi in einem literarischen Bhagwan, stattfinden."

"Vor Kühnheit zitternd", wie man Broder eher selten wahrnimmt, kippt er "ein paar tropfen Absinth in ein Fass Dom Pérignon", auch wenn das gar nicht sein Anliegen sei. Er verehre Reich-Ranicki, weil er zwar ein Papst, aber wie alle Menschen fehlbar sei. Das klingt wie eine vorauseilende Bitte um Nachsicht.

Die Deutschen, sagt Broder dann, könnten von der Vergangenheit nicht genug bekommen.

"Die ,Kollektivscham', mit der man sich zu der Zeit von Adenauer, Brandt und Kohl geschmückt hat, ist längst einem ,Sündenstolz' gewichen, der fröhlich mit seiner grausamen Geschichte kokettiert, um daraus moralisches Kapital zu schlagen. ,Gerade wir als Deutsche...' ist die Floskel, mit der fast alle Reden anfangen, die bei Auschwitz einsetzen und im Nahen Osten aufhören. 'Gerade wir als Deutsche' sind dazu prädestiniert, andere zu warnen, unsere Fehler zu wiederholen. ,Gerade wir als Deutsche' wissen, dass ein Krieg keine Konflikte löst und Gewalt immer neue Gewalt erzeugt. ,Gerade wir als Deutsche' haben aus der Vergangenheit gelernt, wenn auch nicht, dass man das Böse bekämpfen, sondern dass man überhaupt nicht kämpfen soll."

Broder kleidet seinen Furor in Fragen:

"Bekommen Sie nicht eine Gänsehaut, wenn im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in Gaza von ,Zuständen wie im Warschauer Ghetto' geredet wird? Packt Sie da nicht die Wut und das Verlangen, Ihr Zuhause in der deutschen Literatur für einen Moment zu verlassen und sich draußen auf der Straße umzusehen, wo nicht die Freunde von Heine und Hölderlin unter den Linden flanieren, sondern die Anhänger von Hamas und Hisbollah ,Zionisten raus aus Palästina!' rufen? Klingt das in Ihren Ohren nicht so wie ,Juden raus nach Palästina!' - nur eben andersrum?"

Er fragt nach dem Warum einer "Wiederkehr der jüdischen Frage, diesmal in Form des ungelösten Nahost-Konflikts." Und wir müssten uns fragen, "ob es zu den Aufgaben und Pflichten von Abgeordneten des Bundestages gehört, auf einem Schiff nach Gaza zu dampfen, das von einer islamistischen Organisation gechartert wurde".

Zuverlässig provozierend bis streitbar, wie er ist, mahnt er vor allem das Reden an, das Reden, das mit Fragen beginnt.

"Könnte es sein, dass die großen Katastrophen nicht hinter, sondern vor uns liegen? Wir sind damit beschäftigt, geschehene Desaster zu analysieren und auszuwerten, statt potentielle zu erkennen und im Ansatz zu verhindern. Wir trauen uns zu, den Anstieg der Welttemperatur auf zwei Grad zu begrenzen, aber wir sind nicht in der Lage, Iran von seinen Atomplänen abzubringen."

So sei das eben, hatte Broder anfangs eingelassen, "wenn man lange genug durchhält, wird von man von einem ,bad boy' zu ,everybody's darling, befördert." Aus seinem Mund klingt das wie eine Drohung.

Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker, wird Reich-Ranicki gern zitiert. Broder macht sie zum Anliegen des Laudators. Und der Ausgezeichnete spricht schließlich vom Glück, ein Außenseiter zu sein. Auch das verbindet beide.

Die Laudatio ist auf spiegel.de dokumentiert: tinyurl.com/36cwj7l

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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