Warten auf Voltaire

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Würde Zeit an der Börse gehandelt – es wäre ein Grund, ein wenig zu spekulieren und sowieso ein paar Aktien beiseite zu schaffen für noch schlechtere Zeiten mit noch knapperen Zeitressourcen. Also quasi für morgen.


Das Timing ist denkbar schlecht. Ausgerechnet in dem Jahr, in dem laut Maya-Kalender den Menschen am wenigsten Zeit bleibt (das kann der eingeschobene 29. Februar jetzt auch nicht mehr rausreißen), gehen sie damit um, als gäbe es ein Morgen. Wir nähern uns dem Rubikon, vom Kairos ganz zu schweigen.

Bei den Leipziger Verkehrsbetrieben wurde schon vor Monaten auf Countdown umgestellt. Informierten die Straßenbahn-Haltestellen-Displays bis dahin über den Zeitpunkt der Abfahrt, werden nun die verbleibenden Minuten angezeigt. Die nächste Tram der Linie 7 fährt nicht mehr 11.59 Uhr, sondern in vier Minuten.

So ausgesprochen fünf vor Zwölf ist es an der Zeit für Auszeiten. Gedanklich. Voltaire hat es vorgemacht. „Sire, ich eile“, ließ er Friedrich II. ausrichten, „ich werde kommen, tot oder lebendig.“ Da weilte er gerade mit Wagenbruch in Kleve. Fünf Tage später traf er in Potsdam ein. Lebendig. Das war die Eile des 18. Jahrhunderts: Sie ließ Raum für den einen oder anderen philosophischen Exkurs. Oder ein spöttisches Gedicht. Oder eine ausschweifende Entgegnung.

Als Leibniz befand, dass wir „in der besten aller möglichen Welten leben“, antwortete Voltaire ihm mit einem Roman, der bitterironischen Parodie „Candide oder Der Optimismus“. Darin nimmt er ganz nebenbei schon die zeitraubend korrekte Politikersprache vorweg, wenn er von „hohen Würdenträgerinnen und Würdenträgern“ schreibt.

Als in den 80er Jahren Kellnerin Lilo im legendären Café Corso von einem Stammgast darauf hingewiesen wurde, dass er nun schon eine halbe Stunde auf seinen Kaffee warte, gab sie die richtigste aller möglichen Antworten: „Siehste, wie die Zeit vergeht.“

Über das Café Corso ist die Zeit hinweg gegangen. Wo es war, gibt es jetzt Sportklamotten. Die komplette Ausrüstung zum Davonlaufen. Und sei es im Fitnessstudio. Was das Laufband vom Hamsterrad unterscheidet, ist ja nicht mehr als die Krümmung.

Wer die Zeit hat, kann sie auch verlassen: mit Hans Joachim Schädlichs Novelle „Sire, ich eile“ zum Beispiel, die am Montag erscheint (Rowohlt Verlag, 16,95 Euro). Darin widmet er sich der Beziehung zwischen Voltaire und Friedrich II. Dabei ist es eher ein Porträt Voltaires, dessen aufgeklärte Liebe zu Émilie du Chatelet den ersten Teil prägt.

Im zweiten dann, dem eiligen, zerstreiten und trennen sich Friedrich und Voltaire, auch weil letzterer seinen Ideen verpflichtet bleibt, während die Krone aus jenem Kronprinzen mit schwerer Kindheit keinen besseren Menschen gemacht hat. Auch keinen klügeren. Dass beide eigenwillige Spötter waren, das macht die Paarung durchaus interessant.

So treffen – mit dem Autor – drei Ironiker aufeinander, und Schädlichs Begabung zur Reduktion macht aus 144 Seiten ein Schatzkästlein, das Zeit bewahrt, um sie herzuschenken. Während der Lektüre nämlich, die anregt, Gedanken schweifen zu lassen über die Unvereinbarkeit von freiheitlichem Geist und Macht. Über alle diese Zeiten hinweg.

(zuerst unter www.lvz-online.de)

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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