Zu Weihnachten: Über Ethik und Moral, Verzeihen und Neuanfang.

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Die vielfältigen Konzepte philosophischer Ethik lassen sich grob in zwei unterschiedliche Kategorien einteilen: die "Gesinnungsethik" und die "Verantwortungsethik". Die Grundfrage der Ethik: Was hat als moralisch gute Handlung zu gelten? wird von den beiden Richtungen nach ganz gegensätzlichen Prinzipien beantwortet. ("Handlungen" sind dabei nicht alle möglichen Aktivitäten, sondern, neben Arbeiten, Herstellen und Denken z.B., grundsätzlich solche, die auf andere Menschen - oder u.U, auch auf mich selber- gerichtet sind.)

Die Verantwortungsethiker schauen dabei auf das Ergebnis der Handlung. Eine gute Handlung ist eine solche, die einen positiven, wünschenswerten Effekt zur Folge hat. Moralisch richtig handelt man demnach, wenn man sein Handeln zielgerichtet auf eine "gute" Wirkung hin ausrichtet. Eine wesentliche Richtung innerhalb der Verantwortungsethik stellen die "Utilitaristen" dar, nach welchen die bestmögliche Handlung die ist, die "das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Anzahl" von Menschen bewirkt.

Ganz anders die "Gesinnungsethiker", zu denen der nicht nur auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, sondern auch auf dem der Ethik bedeutende Immanuel Kant zählt. Nach ihm liegt das Kriterium für eine moralisch gute Handlungsweise nicht im Ergebnis der Handlung, sondern im Motiv, im "Willen" des Handelnden. Eine gute Tat ist eine solche, die um der Erfüllung des Sittengesetzes willen geschieht.

Eine an Kant orientierte Gesinnungsethik vertritt auch mein Lieblingsphilosoph Hannah Arendt ("Lieblingsphilosoph": ich muss das so ausdrücken, weil meine Sprache mir keine geschlechtsneutrale Bezeichnung bereitstellt. Hannah Arendt ist jedoch, neben Heraklit, nicht nur unter den weiblichen, sondern auch unter den männlichen Philosophen mein Liebling).

Ihr entsprechender Gedankengang zu einer "conditio humana" soll hier aus gegebenem Anlass etwas ausführlicher dargelegt werden.

Während die Philosophen seit der griechischen Antike die Sterblichkeit des Menschen als dessen Wesensmerkmal in den Blick nehmen, begreift Hannah Arendt (diese Besonderheit in ihrem Denken, obwohl auf Augustinus zurückgreifend, vielleicht doch ihrem Geschlecht geschuldet?) die Gebürtlichkeit als das Wesentliche der menschlichen Existenz und verknüpft diese mit ihrer Gesinnungs-ethischen Auffassung, dass bei jedem Handeln eine unabsehbare und unwiderrufliche Kette von Folgen entsteht: "Denn zum Wesen des Handelns gehört sowohl die Unberechenbarkeit seiner Folgen als auch das Faktum, dass das, was wir getan haben, nicht widerruflich ist."

Diese "Unwiderruflichkeit des Getanen" und die "Unabsehbarkeit menschlichen Handelns" bestimmen das menschliche Miteinander existenziell und würden die Menschen unweigerlich in einen Abgrund des Verderbens reißen, wenn sie dagegen nicht zwei Mittel hätten, das Verzeihen und den Neuanfang.

"Verfehlungen sind alltägliche Vorkommnisse, die sich aus der Natur des Handelns selbst ergeben, das ständig neue Bezüge in ein schon bestehendes Bezugsgewebe schlägt; sie bedürfen der Verzeihung, des Vergebens und Vergessens, denn das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße wie sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermassen zu handhaben."

"Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mit Hilfe der anderen. In dem Zusammenhandeln realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens. Ohne diese Fähigkeit des Neubeginnens, des Anhaltens und des Eingreifens, wäre ein Leben, das wie das menschliche Leben, von Geburt an dem Tode zueilt, dazu verurteilt, alles spezifisch Menschliche immer wieder in seinen Untergang zu reißen und zu verderben"

Anknüpfend an den Gedanken von Augustinus: "Damit ein Anfang möglich ist, werden Menschen geboren", schreibt Hannah Arendt, die Jüdin:

„Das ´Wunder` besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ´Glaube und Hoffnung`…Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die ´frohe Botschaft` verkünden: ´Uns ist ein Kind geboren`“.

Das gebe ich insoweit zu bedenken, und dem habe ich nichts hinzuzufügen.

oranier

(Zitate aus: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben)

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