S21: Die Geißler-Hysterie und die Mühen der Berichterstattung

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Die aktuelle Geißler-Hysterie kritisiert den richtigen Mann an der falschen Stelle, verschüttet dabei den Weg zu einer Sachdebatte über das neue SMA-Papier und zerstört damit die Basis für eine Rückkehr des gespaltenen Stuttgarter Bürgertums zu einer gemeinsamen politischen Mitte.

Tobias Armbrüster hat sein Interview mit Heiner Geißler zur richtigen Zeit und zum richtigen Thema geführt. Dann rutschte er leider in ein typisches deutsches „Gutmenschen“-Ritual, erwischte einen offenbar erschöpften und bereits gereizten Geißler auf dem falschen Fuß und fand den Ausweg nicht mehr. [1] Und nun hysteriert der deutsche inquisitorische Pharisäerjournalimus, stürzt zu Unrecht den alten Herrn von einem Heldenpodest, auf das er ihn zuvor ebenso zu Unrecht gestellt hat – und entledigt sich damit zum xten Mal der Pflicht zur Arbeit an der eigentlichen Sache, dem SMA-Papier zur Stuttgarter Friedensstiftung. [2] Wie man dabei mit unterschiedlichen Überschriften zum selben Artikel ganz unterschiedliche Stimmungen hervorrufen kann, demonstrieren eher hetzerisch die BZ und eher sachorientiert die FR. [3]

Inzwischen haben wir im Exotenwinkel auch wieder Versuche eines echten Journalismus, der im Sau-Durch-Dorf-Jag-Geheul der allgemeinenMeute versucht, journalistische Standards über den derzeitigen Zeitgeist hinaus zu retten. Und so können wir beispielsweise in der Kontext Wochenzeitung dankenswerter Weise nachlesen, was Geißler bei seiner Verbal-Entgleisung tatsächlich gesagt hat (und was sonst noch dazu zu sagen wäre). Und siehe da: es ist kein Goebbels-Zitat:

"Wollt ihr den totalen Krieg, Wollt ihr den totalen Sieg?" [4]

Erst der Interviewer selbst macht das Zitat zu dem, was er anschließend kritisiert:

Armbrüster: Herr Geißler, seit Tagen wird auch über eine ganz andere Äußerung von Ihnen gesprochen, am Schluss der Gespräche am vergangenen Freitag haben Sie Joseph Goebbels zitiert und die Konfliktparteien gefragt: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Was war da Ihre Absicht?

Und als Geißler sich vollkommen korrekt daran macht, die noch offene Frage nach seiner Absicht zu beantworten, wird es ganz übel: Armbrüster unterbricht und macht aus seiner offenen Informationsfrage nach der Absicht, deren Beantwortung offenbar nicht wunschgemäß ausfällt, plötzlich eine Suggestivfrage nach der Verharmlosung des Nationalsozialismus. Was – hier gekürzt – folgt, ist inquisitorischer Kampagnen- und Verleumdungsjournalismus der übelsten Art:

Geißler: Mal klarzumachen, was los ist. Man kann doch nicht dauernd in Entweder-Oder-Kategorien denken, sondern es gibt auch das Denken Sowohl-Als-Auch. Es ist der Kompromiss, der ...

Armbrüster: ... ich muss Sie das gerade fragen: Verharmlosen Sie damit die Sprechweise der Nazis?

..

Geißler: Also, so eine Unterstellung! Bitte?

Armbrüster: Herr Geißler, was war dann Ihre Absicht, dieses Zitat zu benutzen?

Geißler: Ja, ich habe das benutzt, um die Situation klarzumachen. Waren Sie schon mal in Stuttgart und haben Sie es erlebt, was da los ist? Sie haben ja gerade Auszüge aus dieser Demonstration gebracht. Das ist ein verbaler Krieg, den wir dort haben.

Armbrüster: Und droht dort ...

Geißler: ... eine heftige Auseinandersetzung, die die Stadt spaltet und die Leute gegeneinander aufbringt. Meine Absicht war, deutlich zu machen, dass wir den Frieden brauchen. Vielleicht sollten Sie mal darüber reden, anstatt über ein Zitat, das ja nur dazu dient, den Leuten klarzumachen, dass es jetzt höchste Zeit ist, eine friedliche Lösung finden zu wollen.

Armbrüster: Na ja, das Zitat haben Sie ja in die Welt gesetzt.

..

Armbrüster: Ist das denn totaler Krieg, der da in Stuttgart droht?

Geißler: Der droht schon seit geraumer Zeit, er ist schon seit geraumer Zeit vorhanden,
es hat über 100 Verletzte gegeben, ein Mensch ist total blind geworden bei dieser Auseinandersetzung.

Armbrüster: Und das reicht ...

Geißler: Ich verharmlose überhaupt nicht,
ich glaube, Sie verharmlosen.
....[Hervorhebungen von mir.] [1]

Dieses Interview lohnt ein genaues Studium. Wort für Wort. Tut man dies – ich werde es hier nicht vormachen -, dann hat man in nuce, woran gerade der vermeintlich engagierte Journalismus in Deutschland heute insgesamt krankt: statt der notwendigen Recherche und Sachdebatte spielt man in pubertären Hahnenkämpfen mit quasi moralischen Abwertungsschablonen – gerne in Zusammenhang mit dem Nazibereich – und geilt sich am eigenen Pharisäertum auf. Man tut dabei genau das, was zynisch zugespitzt, Geißler und die Seinen schon immer getan haben und bis heute tun, um politische Gegner aufs Übelste zu verleumden.

Es ist die Junge-Union-Sozialisation in politischem Foul-Spiel, die Typen wie früher Heiner Geißler und Helmut Kohl, heute Steffen Bilger (CDU) oder Patrtick Döring (FDP) hervorbringt, die in der S21-Debatte mit genau denselben Tricks und Fouls spielen – wenngleich ohne Nazi-Bezug -, den Gegner nahezu ausschließlich unter der Gürtellinie attackieren, ihn menschlich niedermachen oder moralisch diffamieren und „Sachargumente“ allenfalls in Form von Lügen, Verkürzungen oder Manipulationen vorbringen.

Das wäre der Kritik und Entlarvung wert. Umso mehr als auch Herr Grinse-Kefer im Herbst seinen Lügen-Dreisatz in ähnlicher Weise gegen Vieregg und Rössler eingesetzt hatte und diesmal nur noch unter der Gürtellinie den Sachbeitrag von Boris Palmer sabotierte. Auch, was Geißler bereits in seiner Herbstrunde und, weniger versteckt, in der „Stresstest-Runde“ an Manipulation, Amtsanmaßung Beitragsunterdrückung und Parteilichkeit verbrach schreit geradezu nach öffentlicher Bloßstellung. [4] Aber der miese „Experte“ Kefer und der miese Politiker Geißler bleiben unerwähnt und unkritisiert. Geißler wird gar als „weiser Alter“ angehimmelt. Ausgerechnet der entgleiste Versuch aber, mal ein bisschen SMA-gesteuerte Sachkunde und Altersweisheit Schweizer Art in die verfahrene Debatte einzubringen und damit Fronten und Denkblockaden zu öffnen, wird desavouiert.

Dabei kann die „Entgleisung“ durchaus erklärt werden. Geißler hatte sich den „totalen Krieg“ wohl zurecht gelegt, um am Ende des Tages festgefahrene Denkschablonen bei beiden Parteien aufzubrechen und die neuronalen Bahnen für den SMA-Kompromiss zu öffnen. Dann merkte er, dass er in der Runde nicht mehr die von allen ungefragt akzeptierte Autorität des „Faktenchecks war. Ohnehin altersmäßig nicht mehr der Frischeste und von der Arbeit an der S21-Front zermürbt, verlor er in der Aggressivität der „Stresstestrunde“ spätestens an dem Punkt die Contenance, als sein Freund Stohler persönlich attackiert wurde und fiel auf seine alt-eingeschliffenen Angriffsmuster des zynischen Macht- und Parteipolitikers zurück, was die Stimmung weiter anheizte. Als schließlich die Vertreter des Stuttgarter Widerstands die Sitzung verließen, fühlte er sich zur Unzeit gezwungen, das SMA-Papier unter Missachtung seines strategischen Konzeptes unvorbereitet einzubringen.

Der „totale Krieg“, ohnehin eine heikle Provokation, hörte sich nun völlig deplatziert an. Dabei zielte er genau in die richtige Richtung: auf die deutsche Besessenheit von ideologischem Denken, reinen Lehren, Rechthaberei und der Unfähigkeit zu Fehlerkorrektur und zum pragmatischen, demokratischen Kompromiss der Mitte. Auch 60 Jahre danach kennt dieses Volk offenbar keine anderen Optionen als den totalen Sieg oder den totalen Untergang. Dieser Hitler in uns mag in ruhigen Zeiten unsichtbar sein, wenn es, wie bei S21, aber ans Eingemachte geht – an die Frage der Macht -, dann kommt er selbst hinter Kefer-Grinsen zum Vorschein. Insofern bewegte sich Geißler vollkommen auf der richtigen Ebene, auch wenn ihm die Sache entglitt und er seinen „totalen Krieg“ ausgerechnet denen an den Kopf warf, die in dieser Sache als einzige überhaupt gesprächsbereit sind: dem Stuttgarter Widerstand.

Die Hysterie um die Geißler-Formulierung aber ist nun selbst eine (journalistische) Entgleisung übelster Art. Sie verfehlt alles, was wirklich debattiert werden müsste. Sie verhindert eine überfällige Sachdebatte zur Friedensfindung. Sie verwischt die Frontstellung zwischen dummer und verbohrter S21-Mafia und kompromissbereiter Stuttgarter Bürgerschaft. Und sie demütigt und beleidigt die auf Sachbasis und Demokratie argumentierenden Schweizer Vermittler.

So ist nun S21 endgültig zum Demokratie-Fähigkeits-Test für Deutschland geworden.

Nachtrag:

Es liegt mir fern, Tobias Armbrüster hier persönlich anzugehen. Es geht mir vielmehr um eine Art von Journalismus, wie er sie selbst möglicherweise gelernt und nicht weiter reflektiert hat. Wie auch immer, ich möchte hier etwas vorführen, was ich für fehlerhaft und korrekturbedürftig halte und keinen Journalisten in seiner Persönlichkeit niedermachen. Schlimm ist auch nicht das Interview selbst in seiner begrenzten Reichweite. Das ist - live - einfach schlecht gelaufen. Viel schlimmer finde ich, dass es von anderen nicht korrigiert und eingeordnet, sondern noch zusätzlich aufgeblasen wurde.

[1] www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1518980/

[2] www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,778020,00.html

[3] www.fr-online.de/wirtschaft/spezials/stuttgart-21/geisslers-kurzer-ruhm-als-nothelfer/-/4767758/8739636/-/

Geißlers kurzer Ruhm als Nothelfer

www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/353294/353295.php

Geißler erklärt den verbalen Krieg

Siehe dazu auch:

www.welt.de/kultur/history/article13523178/Wer-den-Begriff-Totaler-Krieg-erfunden-hat.html

Sven Felix Kellerhoff: Wer den Begriff "Totaler Krieg" erfunden hat

[4] www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/08/bissle-friede/

Susanne Stiefel und Sandro Mattioli mit einem wirklich journalistischen Bericht zur „Stresstest“-Show

www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/08/der-bahnhof-vom-berg/

Josef-Otto Freudenreich zu interessanten Hintergründen des SMA-Friedenspapiers

www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/08/altenhilfe/

Rainer Nübel zur Wiederauferstehung der CDU-Senioren

Siehe auch die Beiträge bei FREITAG:

www.freitag.de/community/blogs/aredlin/mittwochs-beim-freitag--presseschau-114-geisslers-totaler-krieg

www.freitag.de/kultur/1130-die-stille-nach-dem-stuss

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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