Online-Debatten im Netz: Spannende Diskussionen oder Spam?

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Auf dem Politcamp10 diskutierten VertreterInnen von taz, Freitag, European und Vorwärts über die Debattenkultur im Netz. Fazit: Mit der LeserInnnenpartizipation wird immer noch experimentiert. Gerade beim Filtern und der Reaktion auf nutzergenerierte Inhalte unterscheiden sich die medialen Plattformen deutlich in ihren Strategien.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne: Als der Paradigmenwechsel zum Web 2.0 noch neu war und Dialog, ja sogar die Sprengung von bisherigen Hierarchie-Verhältnissen zwischen Autor und Leser in Aussicht stellte, wurde heftig diskutiert und gestritten. Ob die kritische Partizipation der Leser zu einer Qualitätsverbesserung des Journalismus führe oder zum Niedergang.

Mittlerweile ist es ruhiger geworden, fast alle Medien haben interaktive Elemente in ihre Onlineauftritte integriert, manche haben eigene Communities, doch nur wenige öffnen sich konsequent Dialog und Debatte. Existiert also überhaupt eine mediale Debattenkultur im Netz? Wie das Feedback von Lesern und Leserinnen bei taz.de, Freitag.de, Vorwärts und The European eingebunden wird.

Taz: „Unterdrückte Debatte“
Die Piratenpartei, Hartz-4 und die Linkspartei seien die Themen, bei denen sich die größten Anschlussdiskussionen entwickelten, meint Julia Seeliger aus der taz-Onlineredaktion. Grundsätzlich scheint das Interesse am Austausch mit den Lesern und Leserinnen allerdings gering zu sein: Der Schwerpunkt bei der taz liege auf den zahlreichen redaktionellen Artikeln.

Interaktive Angebote sind die Kommentarmöglichkeiten unter den Artikeln sowie der Streit der Woche, der wie die Freitagsfrage auf Freitag.de funktioniert: Zu einer wöchentlichen Frage – die bei der taz allerdings von der Redaktion gestellt wird - sollen Pro- und Contra-Stimmen eingereicht werden. Die besten Antworten werden dienstags im Printmedium abgedruckt. Eine Print-Online-Verschränkung findet hier also statt.

Innovativ ist vor allem die taz-Community: Die Bewegungsplattform vernetzt zwar nicht Leser und Autoren, dafür können taz-Sympathisanten sich in der neuen Community über Aktionen und Kampagnen austauschen und gemeinsam an Ideen zur Weltverbesserung arbeiten – ein sinnvoller Anschluss des Onlinediskurses an die reale Welt.

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Bewegungsplattform der taz

Debatten im Netz: Wenige Perlen

Eine richtige taz-Debattenkultur im Netz gebe es nicht. „Mir ist keine Community-Strategie der taz bekannt“, sagt Julia Seeliger. „Wenn man keine Ressourcen reinsteckt, kommt halt auch keine Debatte raus. Wenn, dann muss ich das auch moderieren“. Die Kommentare seien optisch eher versteckt. Es sei „technisch so gelöst, dass eine Debatte unterdrückt wird“, die Kommentarfunktion sei „hässlich, grau, da unten“. Ein Online-Diskurs müsse gepflegt werden, und das sei bei der taz nicht gegeben.http://fernlokal.wordpress.com/wp-includes/js/tinymce/plugins/wordpress/img/trans.gif Grundsätzlich werden Kommentare vor der Veröffentlichung redaktionell geprüft: Nur ein Praktikant kümmert sich um die Leserkommentare, bei großem Andrang unterstützt von Redakteuren.

Bei der Vielzahl der Artikeln, meint Julia Seeliger, seien die Kommentare aber auch nicht so wichtig. „Auf 80 bis 90 Prozent der Kommentare kann man verzichten“, so Seeliger. Sie würde gerne noch mehr zensieren, oft würden Meinungen sich wiederholen und „Propagandalügen“ bei Islamthemen und Nah-Ostdebatten seien verbreitet. Menschen, die im realen Leben hetzen, würde sie ja auch aus ihrem Haus rausschmeissen. Das Auswahlkriterium für die Freischaltung sei „die Kombination meiner Lebenserfahrung und Intuition“, so Seeliger. Kollektiven Entscheidungs- und Selbstregulationsprozessen traut sie anscheinend nicht.

Die Kommentare seien laut Seeliger „ein großer Haufen Mist mit ein paar kleinen Perlen drin“. Damit schließt sie sich dem IT-Pionier und späterem Skeptiker Joseph Weizenbaum an, der das Internet als "Misthaufen mit Perlen drin" bezeichnete. Die Aussage an sich ist nicht neu, das Interessante ist der Perspektivenwechsel, der bei Julia Seeliger anscheinend eine Meinungsänderung bewirkt hat.

Bis zum letzten Jahr war sie in der Netzwelt primär als Zeitrafferin bekannt und eine der wenigen Bloggerinnen, die regelmäßig über Politik – vor allem Grüne – und Netzpolitik berichteten und eher dem Pro-Onlinedebatten-Lager anzugehören schien. Jetzt arbeitet sie in der Onlineredaktion der taz, wo sich ihre Haltung wohl angesichts der redaktionellen Alltagszwänge verändert hat. Ein kleines Blog sei eben etwas anderes als eine große Tageszeitung wie die taz anderes: „Mir fällt keine Lösung ein, wie man da eine gute Debattenkultur bekommt.“

Der Freitag: Als Autor gesprächsbereit sein

Teresa Bücker, Community Managerin bei freitag.de, sieht zwischen Dialogfähigkeit und der Größe eines Mediums keinen Widerspruch: „Unsere Kommentare gehen direkt online und wir haben auch keine Praktikanten, die die Kommentare pflegen – das machen die User ganz gut selber“. Der Freitag ist – inspiriert vom britischen Guardian – wohl das am weitesten in Richtung Web 2.0 entwickelte Medium im deutschsprachigen Raum.

Die Blogbeiträge der LeserInnen stehen neben redaktionellen Beiträgen. Autoren und LeserInnen diskutieren in den Kommentaren oder zur wöchentlichen Freitagsfrage in der Politikarena. Ausgewählte Beiträge von Lesern erscheinen auch in der Wochenzeitung. Einen typischen Kommentator gebe es beim Freitag nicht, meint Teresa Bücker. Früher – in der Prä-Augstein-Phase des Freitag – seien die Leser zu 70 bis 80 Prozent männlich gewesen. Jetzt hätten sie sich verjüngt und der Frauenanteil liege bei 40 Prozent.

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Debatten auf Freitag.de

Die Redaktion greife nur ein, wenn Themen gekapert werden und versuche dann neue Impulse zu setzen. So habe die „Männerbewegung“ bei der Diskussion um die Frauenquote bei der Telekom versucht, die Debatte zu lenken. „Wir schauen das keine Anfeindungen passieren.“ Andere kontroverse Themen seien „Gender, Israel, Wer ist hier der Linkeste?“. Es gebe vielleicht einmal im Monat Zoff.

Wichtig sei, dass die Autoren ihre Beiträge immer mit Namen unterschreiben: „Die Leute haben gerne einen Verantwortlichen, mit dem sie sich streiten können.“ Ein Kommentar werde höchstens gelöscht, wenn die gesamte Redaktion sich einig sei. „Wenn wir eine Debattenkultur wollen, dann müssen wir auch ein Online-Medium sein, ich muss auch als Autor gesprächsbereit und da sein“, so Theresa Bücker. Es sei positiv, wenn Journalisten am Beziehungsaufbau interessiert und auch in anderen Blogs präsent seien.

Vorwärts.de: Verrohung politischer Debatten

Bei Vorwärts.de, der Onlinepräsenz der SPD-Parteizeitung, diskutieren neben SPD-lern auch Piraten oder andere Interessenten mit. Karsten Wenzlaff, Social Media Redakteur bei Vorwaerts.de, meint, dass die Debattenkultur sich grundsätzlich verändere und Diskussionen vor allem bei extremen Thesen geführt werden. So sei auf Twitter eine Überspitzung durch die Reduktion auf 140 Zeichen zu beobachten. Auch der meistkommentierte Beitrag auf Vorwärts.de sei auf die Headline – „Ich bin ein Pirat in der SPD“ – zurückzuführen, obwohl es sich nur um die Verlinkung zu einer Facebook-Gruppe gehandelt habe.

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Vorwärts: "Ich bin ein Pirat in der SPD"

Am Anfang habe man sich bei vorwaerts.de anmelden müssen, um mitzudiskutieren. Bei politischen Debatten, so Wenzlaff, sei schnell eine Verrohung festzustellen, bis sich nur noch zwei oder drei Leute streiten. Jetzt könne man auch anonym debattieren, was die Barriere senke und zu einer vielseitigeren Diskussion beitrage. Die Onlineredaktion schalte alle Kommentare nach etwa zwei Stunden bis zu einem halben Tag frei.

Eine Trackback-Funktion sei für eine bessere Diskussionskultur wünschenswert, doch nicht ausreichend. Karsten Wenzlaff findet vor allem die Möglichkeit interessant, durch technische Lösung eine medienübergreifende Diskussion zu schaffen, um gesellschaftliche Debatten voranzubringen. „Das scheitert aber nicht nur an der Technik“, so Wenzlaff, „sondern auch an den unterschiedlichen Diskussionskulturen und den unterschiedlichen Zielen der Medien“.

The European: Da sein, wo die Leser sind

The European ist ein Online-Debattenmagazin, das sich selbst als streitbar, analytisch und diskursiv beschreibt und pointierten Meinungsjournalismus betreiben möchte. „Nicht die Nachricht ist interessant im Netz, sondern die Bedeutung“, meint Alexander Görlach, „und wir gehen dahin, wo die Leser sind“. Die Debatte werde auf Plattformen wie Facebook, Twitter und StudiVZ geführt und nicht nur auf der eigenen Webseite.

Auch der European regt über die Redaktion Debatten an: So würden verschiedene Autoren auf redaktionelle Thesen antworten und dadurch eine Diskussion in der Community aktivieren. Bei Themen wie Westerwelle, Nahost-Konflikt und Israel, Afghanistan und Missbrauch in Moscheen sei das Echo der immer wieder groß. Bei Diskussionen um die Islam-Kritikerin Necla Kelek würden die Kelek-Gemeinde und Anti-Kelek Gemeinde regelmäßig aufeinanderprallen.

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The European: "Onlinedebatte noch nicht so weit wie in Print"

Die LeserInnen, die beim European kommentieren, seien zwischen Mitte 20 bis Ende 30. Vier Mitarbeiter kümmern um die Kommentare, selten löschen sie einen Beitrag. „Sowas wie „die besoffene Alte“ muss nicht sein, aber das ist nur einer von 50“, so Görlach. „Die meisten, die sich in die Debatte einbringen, wollen sich wirklich einbringen und Feedback haben.“ Wenn die Nutzer Fotos haben und nicht anonym sind, seien die Rückmeldungen besser. Den Grund für eine unbefriedigende Debattenkultur im Netz sieht Alexander Görlach nicht in einem technologischen Defizit: „Wir haben es noch nicht geschafft, die Debattenkultur, die im Print stattfindet, zu spiegeln“.

Online-Debattierkultur als Utopie?

Die Kommentarfunktion unter Artikeln ist mittlerweile Standard – ob die Dialogmöglichkeit zum Abstellgleis oder zum Diskussionsforum wird, hängt vom Engagement der Autoren und dem Medium, aber auch den Lesern ab. Es besteht Nachholbedarf: Eine rege Debattierkultur kann nur als punktuell verwirklicht gesehen werden, wobei sich die Diskussionen meistens um die gleichen, kontroversen Themen entfachen.

Ob Kommentare sofort, nach redaktioneller Kontrolle oder gar nicht freigeschaltet werden, hängt vom jeweiligen Medium ab. Das Vertrauen in die Selbstregulation der LeserInnen scheint sich allerdings meistens zu bewähren. Dass Journalisten in den Diskussionen um ihre Artikel präsent sind, ist wünschenswert. Standard ist die Offenheit für die Online-Debattierkultur jedoch auch aufgrund des hohen Zeitaufwandes noch nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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