Europas Tahrir: Spaniens Wahlbehörde verbietet die Proteste

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So eine Begründung muss man sich erst einmal ausdenken: Weil die seit mehreren Tagen anhaltenden Massenproteste in Spanien den Ablauf der Regional- und Kommunalwahlen am Sonntag stören und die Wähler beeinflussen könnten, hat die zentrale Wahlbehörde jetzt alle für das Wochenende angekündigten Demonstrationen untersagt. Anders formuliert: Aus Angst davor, dass die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit auch einmal Folgen haben könnte, wird ein Kern des demokratischen Selbstanspruches zeitweise suspendiert: die Versammlungsfreiheit. Die Aktivisten der Bewegung „Echte Demokratie Jetzt!“ hatten unter anderem dazu aufgerufen, weder Sozialisten noch Konservativen eine Stimme zu geben. Die spanische Wahlbehörde selbst ist aus Obersten Richtern und Professoren zusammengesetzt – die Verbotsentscheidung fiel mit einer Stimme Mehrheit.







Am Donnerstagabend demonstrierten erneut Tausende gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die ohnehin gebeutelte Bevölkerungsmehrheit, gegen Erwerbslosigkeit und ein eingefahrenes politisches System, dem viele längst nicht mehr zutrauen, die wachsenden Probleme zu lösen. „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“, lautete eine Losung auf dem besetzten Puerta del Sol in Madrid. Auch in Barcelona, Valencia, Bilbao oder Santiago de Compostela gingen Tausende erneut auf die Straße. Ob das Label „Jugendrevolte“ die Bewegung richtig charakterisiert, sei dahingestellt – ein politischer Faktor ist „Democracia Real YA“ in jedem Fall geworden, und das binnen weniger Tage. Nach Aufrufen im Internet waren am vergangenen Sonntag erstmals Tausende zu Kundgebungen in mehr als 40 Städten gekommen – die Bewegung sei „praktisch über Nacht“ bekannt geworden, heißt es in Nachrichtenagenturen. Aber der Unmut kommt keineswegs aus dem Nichts.

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Die Zeitungen fassen es in wenigen Sätzen zusammen: „In Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 40 Prozent, in Spanien lahmt die Konjunktur, in Spanien stehen Regional- und Kommunalwahlen an, und auf den Listen finden sich mehr als 100 Kandidaten, die mehr oder weniger eindeutig mit Korruption in Verbindung gebracht werden. Es gibt viele Frustrierte in Spanien, wo auch von der „Generacion ni ni“ gesprochen wird: von der Generation, die weder studiert noch arbeitet.“ Hinzu kommen die Folgen der europäischen Schuldenkrise: Die Regierung Zapatero hat Beamtengehälter gesenkt, Renten eingefroren und den Kündigungsschutz gelockert. Die Sanierung des Haushaltes gerät zur Abrissbirne für soziale Rechte und die Teilhabe-Chancen Hunderttausender. Die unter anderem von jenen Ländern verordnete Etatdisziplin, die von den europäischen Ungleichgewichten profitieren, eine Etatdisziplin, welche die Vermögensansprüche weniger absichern soll, verstärkt die ohnehin großen Probleme: Mehr als jeder Fünfte in Spanien ist ohne Arbeit.

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Doch der Forderungskatalog der Protestierenden geht über die Absage an den antisozialen Krisenreparatur-Kurs hinaus. Das Manifest zielt auf das Selbstverständnis der spanischen Gesellschaft insgesamt: „Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung, sowie das Wohl und Glück der Menschen müssen als Prioritäten einer jeden modernen Gesellschaft gelten.“ Gegenwärtig jedoch „sorgen unsere Regierung und das Wirtschaftssystem nicht dafür, sondern stellen sogar auf vielerlei Weise ein Hindernis für menschlichen Fortschritt dar“. Es müsse um eine „ethische Revolution“ gehen: „Anstatt das Geld über Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Produkte. Ich bin kein Produkt dessen, was ich kaufe, weshalb ich es kaufe oder von wem.“







Während der Aufstand in den spanischen Städten erst langsam in den traditionellen Medien zum Thema wurde, hat sich die #spanishrevolution im Internet schnell verbreitet – und treibt so inzwischen in anderen europäischen Ländern Ableger aus: Hier im Freitag-Blog und hier auf Spreeblick.com wird über Demonstrationen in Deutschland und eine Facobook-Seite berichtet. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat den Protestierenden in Spanien dazu gratuliert, „dass sie weiter eindrucksvoll protestieren“. Wer dagegen kämpfe, dass Renten, Sozialleistungen und öffentliche Güter zu Gunsten von Banken und Konzernen umverteilt werden, „der kämpft den gleichen Kampf wie wir und hat unsere volle Solidarität“. Die Losung „Echte Demokratie jetzt!“ sei auch hierzulande aktuell.

Was auf eine besondere Weise gilt, seit Angela Merkel über den Stammtischen im gefährlichen Tiefflug unterwegs ist: „Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig“, hatte die Kanzlerin am Dienstag erklärt. „Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig.“

Gegen diesen deutschen Eurochauvinismus auf die Straße zu gehen, während ein Signal der Solidarität nicht nur mit den Menschen auf dem Puerta del Sol in Madrid. Die Frage bleibt, ob in der Bundesrepublik realistische Chancen auf eine ähnliche Bewegung bestehen – man darf skeptisch sein. Diskutiert worden ist über die hiesigen Grenzen der Proteste schon im vergangenen Herbst, als Hunderttausende gegen Atomkraft und Stuttgarter Tiefbahnhof demonstrierten – aber kaum jemand gegen die Hartz-Reform oder überhaupt den sozialpolitischen Dauerskandal in diesem Land auf die Straße zu gehen bereit war. Das ist kein Argument gegen Proteste a la Democracia Real YA. Aber es ist die hiesige Lage.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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