Flüchten oder Gegenhalten?

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Gestern erst habe ich unter Protest den "Stammtisch" Freitag-Community verlassen - und heute bin ich schon wieder da. Das sieht man, was von den Versprechungen der Sozen zu halten ist! Entsetzt hatte mich das verbale Wüten eines Mannes, der auf seinen Namen "Sozenschreck" stolz ist. Vielleicht habe ich mich zu viel mit den Quellen der Nazizeit beschäftigt - auf jeden Fall: ich finde die "Männerphantasien" Theweleits bestätigt, wenn jemand auf den Stammtisch haut und schwadroniert: "Das ist aber auch ein Klasseweib!" (die so bezeichnete Journalistin ist blond, wäre sie schwarz, wäre sie wohl ein "Rasseweib"), wenn jemand postpubertär Beifall heischend "Frau Ferkel" pöbelt, von "links- und rechtsextremen Arschlöchern" fäkalisiert und besonders schlimm in Richtung eines älteren und sehr gebildeten Bloggers scheinbar anerkennend schreibt: "K.... mit ski am Ende? War ein polnischer Migrant in der (!) Ahnenreihe? An dieser Stelle meine aufrichtige Anerkennung für die hervorragende Integration der polnischen Migranten in Deutschland (!)." Da fehlt nur noch der nachgeäffte polnische Akzent. Kaum auszuhalten! Der so Angesprochene schwieg souverän zu diesem Nazisprech.

Nachdenkend fiel mir dann auf, dass ich einen für Historiker unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Ich hatte "Anlass" und "Ursache" für meinen Verdruss verwechselt. "Sozenschreck" ist schlimm genug, aber nur der Anlass. Meine Kommentare - so stellte ich fest - sind in letzter Zeit immer larmoyanter geworden (was die "Sozenschrecks" der Welt gedankenarm als Schwäche auslegen). Die Larmoyanz nun liegt an meiner Unzufriedenheit mit der Entwicklung des Freitag. Genauer: mit der Freitag Community, nicht mit der Printausgabe. Wider mein Erwarten hat es die Equipe des Freitag bisher geschafft "de maintenir le cap". Sicher, öfter wünsche ich mir mehr investigativen Biss (z.B. in der Sarrazin-Affaire) - mein Gott, was haben wir im Jugoslawienkrieg auf die neuesten Ausgaben von "Konkret" und "Freitag" gewartet, die einzigen Blätter mit Gegeninformationen! - aber die finanziellen und personellen Verhältnisse sind nicht so, können nicht so sein. Mittlerweile lese ich den Freitag mit mehr Interesse als "Die Zeit". Obwohl die mich auf Peter Fasel gebracht hat, dessen wichtige Untersuchung zum exterminatorischen Antisemitismus vieler antiabsolutistischer "Freiheitskämpfer" zu Beginn des 19. Jahrhunderts ich hier rezensieren wollte. Eigentlich.

Nein, es ist die Diskrepanz zwischen der Printausgabe und der Community. Ich hätte vor einem Jahr nie gedacht, dass sich - wir leben in Zeiten der Normalverteilungshegemonie - der Scheitelpunkt der Meinungsverteilungkurve in der Community wie an einer Schnur von Fokus zu Fokus nach rechts verschiebt - und ich mit einigen wenigen mich am unteren linken Randwieder finde, dort wo die dünne Linie zu zerreißen droht. Das zeigte sich bei den Themen Minarettverbot ("Ich wage den Tabubruch und bin dafür"), Kopftuchverbot (unbedingt notwendig)!, den zahlreichen Blogs zur Fussball-WM (vom fröhlichen über den normalen zum natürlichen Nationalismus, pardon: Patriotismus) und dann - vor allem - beim Thema Sarrazin ("Ich bin kein Rassist, aber wo er recht hat..."). Leider hat sich für mich auch die Qualität vieler Beiträge und Kommentare verschlechtert. Ja, auch dies.

Diese Veränderungen haben viele Gründe. Darunter diese: Viele eher Linke haben die Community verlassen oder schreiben nur noch sporadisch. Die übrig Gebliebenen üben sich gerne in gegenseitiger Beschimpfung, die chronische Krankheit der Linken (ich verwende den Begriff hier pauschal). Die rechten Ideologeme sind in der BRD wieder gesellschaftsfähig geworden. Das wirkt sich auch in die Freitag Community hinein.

Hinzu kommt - und das ist schlimmer. Die Bildungskatastrophe zeigt sich auch in der Community. Wikipedia ist ja bequem, da muss man nicht mehr ein ganzes Buch lesen! Und Wikipedia hat immer recht, zumindest erlaubt es, scheinbar immer recht zu haben. Längere Argumentationen werden einfach nicht gelesen. Provokationen dafür umso mehr: Rot gleich Braun, die Welt verändern zu wollen, ist Ideologie, man selbst ist natürlich ideologiefrei, man ist in der Mitte, man ist "ich" - und sonst nichts, die Linken haben "Berührungsängste" mit der Rechten (mit der Wahrheit, s. Wikipedia sowieso). Und die "Gutmenschen" und "Multikulturalisten" haben vor der Realität versagt, sind also nicht ernst zu nehmen.

Und das Schlimme ist. Selbst wer es besser weiß, passt sich dieser Oberflächlichkeit an. Und beschwert sich, wenn's sprachlich zu kompliziert wird. Bis heute setzt mir der mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragene Satz, die Sprache Adornos sei eine "Herrschaftssprache" zu. Wie kann man nur so wenig wissen (wollen)!

Man kann entgegnen. Die Community ist der Spiegel des hegemonialen Bewusstseins in der BRD ('tschuldigung, ich meine natürlich Deutschland), in anderen Communites ist es noch schlimmer. Ist das ein Trost?

Ich komme zum Schluss. Der Boden für die "Sozenschrecks" ist gut vorbereitet. Haben wir es bald mit Migranten aus Nazistan zu tun, mit den "Rotentots" , den "Schlechtmenschen", den "Terminatoren", "Integratoren" und anderen Widerlingen?

Soll man flüchten? Soll man gegenhalten?

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