Oedipus Wulff

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Wie "befreit" atmen wir auf, unbeschwert vertreiben wir an diesen Tagen die finsterbösen Geister des Winters und freuen uns auf das kommende Leben, auf den Priester Joachim Gauck.

Zeit, bei René Girard nachzuschlagen:

Oedipus ist der Verantwortliche par excellence, so verantwortlich, dass für niemand anderem mehr Verantwortung übrigbleibt. Die Idee der Pest resultiert aus diesem Mangel. Die Pest ist der übriggebliebene Rest der Existenzkrise, die man ihrer Gewalt entleert hat. Die Pest führt uns schon in das Klima der Medizin der Moderne. Es gibt nur noch Kranke. Niemand muss irgendjemand Rechenschaft ablegen, außer Ödipus, versteht sich.

Um die ganze Stadt von der auf ihr lastenden Verantwortung zu befreien, um aus der Existenzkrise die Pest zu machen und sie ihrer Gewalt zu entleeren, muss es gelingen, diese Gewalt auf Oedipus zu übertragen, allgemeiner: auf ein Individuum. Es geht immer darum, die Verantwortung für das Unheil auf ein Einzelwesen zu lenken, auf die mythische Frage par excellence zu antworten: "Wer hat angefangen?" Oedipus schafft es nicht, die Schmach auf Kreon und Tiresias zu lenken, aber diesen gelingt es perfekt dieselbe Schmach auf Oedipus zu fixieren...

Wie kann die Einheit der Gemeinschaft, die in der Existenzkrise vollständig aufgelöst war, sich plötzlich wieder herstellen? Wir sind auf dem Höhepunkt der Krise: die Umstände erscheinen so ungünstig wie nur möglich. Man findet auch nicht zwei Menschen, die sich , worüber auch immer, einigen könnten. Jeder bemüht sich, die kollektive Last seinem feindlichen Bruder aufzubürden. Ein unbeschreibliches Chaos hat sich der ganzen Gemeinschaft bemächtigt...

In diesem Augenblick, in dem alles verloren scheint, in dem der Nicht-Sinn in der unendlichen widersprüchlichen Diversität triumphiert, ist die Lösung um so näher: die ganze Polis wird sich in gewaltsamer Einheit mit einem Schlag befreien.

aus: René Girard, La Violence et le Sacré (1972)

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