Vor sechs Wochen überbrachte Jürgen Habermas seinem Kollegen Dahrendorf, der am 1. Mai ebenfalls 80 Jahre alt geworden war, seine Glückwünsche in einer Feierstunde in Oxford. Habermas beschrieb Dahrendorf in seiner Rede als homo politicus: „Er lebt, denkt und schreibt aus der Erfahrung einer deutschen Generation, die sich dadurch definiert, dass sie zu der Epochenschwelle von 1945 nicht nicht Stellung nehmen konnte.“ Die Bedeutung Dahrendorfs für die Herausbildung einer modernen intellektuellen Linken jenseits von sozialdemokratischer und kommunistischer Partei ist nicht zu überschätzen.
Dahrendorf studierte zunächst Klassische Philologie und Philosophie und promovierte 1952 – mitten im Kalten Krieg war das keine Kleinigkeit –
losophie und promovierte 1952 – mitten im Kalten Krieg war das keine Kleinigkeit – mit einer Arbeit über Karl Marx (Der Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx). Wer damals Marx-Texte aus der DDR importierte, bekam – wenn der Staatsschutz davon erfuhr – an den westdeutschen Universitäten Ärger. Nur ein mutiger Rektor in Köln verhinderte, dass der damalige Doktorand Hans-Ulrich Wehler wegen eines solchen Imports aus der „Zone“ gemaßregelt wurde. Woher Dahrendorf die Texte für seine Dissertation hatte, ist nicht bekannt. Die Arbeit lasen mit Sicherheit nur wenige.Das änderte sich mit seinem zweiten Buch. Die Bundesrepublik erlebte das Wirtschaftswunder und wurde von großen Teilen der Sozialwissenschaft als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) verstanden. Mit seiner bahnbrechenden zweiten Dissertation im Fach Soziologie (Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft) kündigte der noch nicht einmal 30-Jährige 1957 den herrschenden Konsens in der deutschen Sozialwissenschaft auf. Das Buch war so etwas wie eine wissenschaftliche Initialzündung für den späteren politischen Auf- und Ausbruch aus dem Adenauer-Staat und einer konformistischen Wissenschaft. Galten der damaligen Soziologie soziale Konflikte als eine Ausnahmeerscheinung und „Herrschaft“ und „Klasse“ Kategorien als Relikte aus längst vergangenen Zeiten, so rehabilitierte der akademische Feuerkopf Dahrendorf diese Begriffe und Konzepte. Er interpretierte soziale Konflikte als gesellschaftliche Normalität und als Ausdruck von Ungleichheit sowie von asymmetrischen Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten. Damit eckte er bei der akademischen Zunft ebenso an wie beim politischen Establishment, wie man kurz danach sagte.Anwalt der ChancengleichheitAuch in seinen Büchern Homo sociologicus (1958) und Gesellschaft und Freiheit (1961) setzte sich Dahrendorf mit Marx auseinander, um die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik besser verstehen und darstellen zu können. Im Unterschied zu Marx betonte er aber nicht die Ungleichheit von Eigentum und Besitz als Ursache von Herrschaft, sondern rückte die ungleichen Chancen verschiedener Schichten und Klassen ins Zentrum, soziales Verhalten, soziale Normen und soziale Sanktionen gegen Normverstöße durchzusetzen. Unter Gleichheit verstand der radikale Liberale keine Nivellierung von Eigentum und Besitz, sondern staatsbürgerliche und rechtliche Gleichheit sowie Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Eigentum.Schon 1965 plädierte Dahrendorf in seinem Buch Bildung ist Bürgerrecht für eine demokratische Bildungsreform und für eine Öffnung des Zugangs zu den Hochschulen. Im gleichen Jahr erschien das Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Ihm bescheinigt Jürgen Habermas, dass es „wahrscheinlich der wichtigste mentalitätsbildende Traktat auf dem Weg der Bundesrepublik zu sich selbst (ist) – zu einer Demokratie, die sich erst im Verlaufe von drei bis vier Jahrzehnten von den Schlacken autoritärer Mentalitäten gelöst hat.“Und damit beginnt die zweite Seite des homo politicus Dahrendorf. Er machte eine glänzende akademische Karriere, war jedoch nicht nur Wissenschaftler, sondern verstand sich immer auch als politischer Intellektueller. Bereits 1947, noch vor der Gründung der Bundesrepublik, trat er der SPD bei, die er aber verließ, als die Sozialdemokraten mit der CDU/CSU eine große Koalition bildeten. Der radikale Demokrat Dahrendorf hielt solche Koalitionen schlicht für demokratieunwürdig und demokratiewidrig. Er schloss sich dem breiten Protest gegen die Notstandsgesetze an, die die große Koalition trotzdem verabschiedet hat. 1968 zeigte er Sympathie für die Protestbewegung der Studenten und setzte sich öffentlich mehrmals mit Rudi Dutschke auseinander, was damals fast alle Politiker ablehnten.Zu dieser Zeit tratt er in die FDP ein. Dass aus der nach dem Krieg rechtslastigen Partei eine zeitweise liberale und fortschrittliche wurde, ist Dahrendorf und dem damaligen FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach (1929-1973) zuzuschreiben. Dahrendorfs Vermächtnis besteht in seinem radikalen Demokratieverständnis und seinem politischen Liberalismus, der sich vom besitzbürgerlichen Spießerliberalismus der Besserverdienenden entschieden absetzt.