Der geile Jude - von der Hartnäckigkeit eines Stereotyps

Antisemitismus In seinem Buch "Neidgeschrei" geht Gerhard Henschel dem Zusammenhang von Antisemitismus und Sexualfeindlichkeit nach. Thomas Rothschild hat das Buch gelesen

Dass es eine Korrelation zwischen Antisemitismus und unterdrückter Sexualität gibt, wissen wir spätestens seit Adornos F-Skala und den Untersuchungen der Frankfurter Schule zum autoritären Charakter. Auch Sartre hat solche Zusammenhänge thematisiert. Die Projektion der Ausgeburten von Sexualängsten in verachtete und diskriminierte Minderheiten, die mit der Fantasie von einer überdimensionierten und (daher) gefährlichen Potenz einhergeht, trifft die Juden nicht anders als die Schwarzen Nordamerikas und überhaupt zahlreiche „fremde“ Kollektive der Geschichte.

Die verführerische sinnliche Jüdin auch, die den braven Christen ins Verderben bringt, ist ein alter Topos, der sich, mal harmlos, mal aggressiv durch die Künste und politische Pamphlete zieht. Was Gerhard Henschel in seinem Buch nun untersucht, ist also in seinem Kern weder neu, noch überraschend. Seine Leistung besteht in der Gründlichkeit, mit der er die Frage verfolgt und einem – allerdings tatsächlich nur einem, gewiss nicht dem einzigen und vielleicht nicht einmal dem wichtigsten – Motiv des Antisemitismus nachspürt. Henschel, bekannt vor allem als Satiriker, hat Unmengen Materials zusammengetragen und seine Quellen ganz und gar unsatirisch in Anmerkungen belegt.


Keine Randerscheinung

Aber Henschel begnügt sich nicht mit der Fülle des Materials, er greift einzelne signifikante Werke heraus und analysiert sie minutiös. Die gute alte Ideologie- und Sprachkritik, die fast schon ausgestorben schien, erwacht hier, gereizt von der Monstrosität des Gegenstands, zu neuem Leben. Die Fleißarbeit wird freilich nicht nur auf Anerkennung treffen. Viele Beispiele sind einander zu ähnlich, um das Interesse wach zu halten. Man begreift die Strukturen, wundert sich vielleicht auch über die Schlichtheit mancher antisemitischer Scheinargumente, braucht aber dafür nicht unbedingt noch einen und noch einen und einen weiteren Beleg.

Andererseits sind die Fälle, die Henschel zusammenträgt, insofern vonnöten, als sie dem Einwand vorbeugen, der Autor spreche von irgendwelchen abstrusen Randerscheinungen. Dabei verzichtet Henschel auf prominente Exempla, die man in diesem Kontext erwartet, wie etwa Veit Harlans Jud Süß (der Film wird nur in einem Nebensatz, ohne Nennung seines Regisseurs, erwähnt), und zu Shakespeare fällt ihm kurioserweise nicht Der Kaufmann von Venedig sondern Lear ein. Die enzyklopädische Anhäufung jedenfalls bringt auf drastische Weise zum Vorschein, dass sich Henschel im Zentrum europäischen Denkens und Fühlens bewegt, dass die Mechanismen, die er beschreibt, den Umgang der Menschen untereinander auf plumpere oder subtilere Weise geprägt haben und prägen. Henschels Buch ist unter anderem ein Beitrag zur Stereotypenforschung, denn was er über den Zusammenhang von Antisemitismus und Sexualität sagt, lässt sich mühelos auf den Konnex von, sagen wir, Antiislamismus und Gewaltfantasien übertragen. Henschel selbst widmet ein Kapitel den Franzosen als „heimlichen Juden“. Franzose, Jude – gehupft wie gesprungen. In den Letzten Tagen der Menschheit von Karl Kraus heißt es: „Alle Kineser san Japaner.“

Die Kehrseite vom Insistieren auf der Einmaligkeit des Holocaust ist nicht nur die gelegentliche Bagatellisierung anderer Genozide und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch eine Vernachlässigung der historischen Dimension des Antisemitismus, der im Nationalsozialismus lediglich einen Gipfel, keineswegs aber einen grundsätzlich anderen Charakter erhielt. Henschel macht am Beispiel des Zusammenhangs von Sexualität und Antisemitismus deutlich, dass die Muster, mit denen die Nationalsozialisten operierten, in der Geschichte vorgeformt waren und dass sie das Jahr 1945 überlebt haben. Nicht nur im Kopf eines Armin Mohler.

Gerhard Henschel: Neidgeschrei. Antisemitismus und Sexualität. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, 383 S.

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