Polemik Es gibt eine Sicht auf die Demokratie, die zutiefst inhuman ist. Sie dient der Verteidigung von Partikularinteressen einer privilegierten Schicht, meint Thomas Rothschild
Linksliberale – gibt es die noch? Wenn man das Links-Rechts-Schema auf den Liberalismus anwenden möchte, dann gehört Josef Joffe, dieser John Wayne des deutschen Journalismus, jedenfalls zu den Rechts-Rechts-Liberalen. Er führt als Mitherausgeber der Zeit einen heldenmütigen Kampf für God‘s Own Country, wofür er mit Lehraufträgen in den USA belohnt wird, und verweist selbst Konservative ins Zentrum des politischen Spektrums. Mitherausgeber Michael Naumann muss sich schon heftig abstrampeln, um den Eindruck zu erwecken, Liberalismus bedeute für das einstige Flaggschiff liberaler Publizistik mehr als bloß neoliberale Wirtschaftstheorie.
Wenn die Sozialdemokratie der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus ist, dann spielt Josef Joffe die R
t Josef Joffe die Rolle des Gesundbeters, der den Verwandten alle Augenblicke versichert, der Patient habe es geschafft, er sei über die Runden, er sei eh ganz wohlauf. Kürzlich hat Joffe sich darüber ausgebreitet, dass Kapitalismus ohne Demokratie, Demokratie aber nicht ohne Kapitalismus möglich sei. Die erste Hälfte dieser Behauptung belegt immerhin einen Lernprozess. Vor gar nicht so langer Zeit konnte man aus der gleichen Richtung noch erfahren, dass der Kapitalismus ein Garant der Demokratie sei.Prager FrühlingDie faschistischen Diktaturen als Spielart des Kapitalismus wurden habituell ausgeblendet. Auch Joffe nennt Faschismus und Nazismus in einem Atem mit dem Kommunismus (gute alte Totalitarismustheorie rediviva), als gelte nicht für sie, anders als für den Kommunismus die Kapitalismusdefinition, die Joffe, Marx simplifizierend, anbietet: „ein System, in dem die Produktionsmittel unter privater Regie stehen, wo Arbeit und Güter gegen bare Münze auf dem Markt getauscht werden“. Bis Herr Joffe begriffen hat, dass auch der zweite Teil seines Lehrsatzes Nonsens ist, müssen wir uns wohl noch eine Weile gedulden.Dass Demokratie nämlich ohne Kapitalismus nicht möglich sei, kann man nur beweisen, indem man Demokratie kapitalismuskompatibel definiert. Was nicht zum Kapitalismus passt, darf eben auch nicht demokratisch sein. So etwas nennt man Tautologie. Dass ein Demokratiebegriff denkbar ist, der auch oder vielleicht sogar nur mit anderen Gesellschaftssystemen als dem Kapitalismus vereinbar wäre, will nicht in Joffes neoliberalen Kopf. Er argumentiert wie ein Feudalherr, der erklärt, Freiheit sei ohne Feudalismus nicht möglich, weil Freiheit bedeute, dass ein Adeliger die Hochzeitnacht mit der Braut seines Untertanen verbringen dürfe. Im Übrigen ist Joffes These auch historisch Unsinn. Entweder war die Athenische Demokratie keine Demokratie, oder das antike Athen war kapitalistisch, oder Joffe ist ein Amateur, dessen politologischen Kenntnisse nur noch von seinem ökonomischen Wissen unterboten werden.In der Tschechoslowakei herrschte 1968 eine Pressefreiheit und eine Lebhaftigkeit der öffentlichen Debatten, also praktizierte Demokratie, wie man sie sich in Westeuropa nur erträumen kann. Wird Joffe nun,um seine These zu retten, Adam Smith und Milton Friedman beurlauben und sich der stalinistischen Ansicht anschließen, mit dem Prager Frühling sei der Kapitalismus ausgebrochen?Die ganze BevölkerungWeil es in der Regel gut verdienende Intellektuelle sind, die sich öffentlich über Demokratie äußern, nehmen die freie Presse, das freie Wort, die Versammlungsfreiheit, freie Wahlen in ihren Überlegungen einen hohen Stellenwert ein. Man ahnt, dass ein Obdachloser erst einmal andere Sorgen hat als die nach der Zugänglichkeit der New York Times oder von Le Monde. Wir wollen es uns nicht zu leicht machen. Es ist schon ein bedeutsamer Unterschied, ob ein Regierungsgegner nur, wie in den meisten Demokratien, berufliche und andere Nachteile hinnehmen, oder ob er, wie in Diktaturen, mit dem Gefängnis oder gar mit Folter oder Hinrichtung rechnen muss.Aber realistisch betrachtet, betrifft diese Alternative nur einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung. Anders ließe sich nicht erklären, dass sich viele Diktaturen erstaunlich lang halten konnten. Die große Mehrheit der Bevölkerung findet sich damit ab, dass ihr bestimmte Freiheiten, von denen sie ohnedies kaum Gebrauch macht, vorenthalten werden, sie kann die Geheimpolizei ignorieren, weil sie vor ihr nichts zu verheimlichen hat, und sie nimmt es, wie wir aus der Geschichte wissen, auch mit Gelassenheit hin, wenn Gruppen, denen sie nicht angehört, verfolgt, verjagt und getötet werden.Für einen Arbeitsplatz nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit scheinen ein paar Juden im KZ kein zu hoher Preis. Es mag einem moralisch widerstreben, dies zur Kenntnis zu nehmen, aber auch in Diktaturen läuft das alltägliche Leben für die meisten Menschen relativ „normal“ ab. Für sie zählen andere Werte und Tatsachen als jene, die gemeinhin mit der Vorstellung von Demokratie verbunden sind.Erst die Missstände abschaffen...Wie wäre die Welt zu betrachten, wenn man, statt nach demokratischen und totalitären Staaten, zwischen solchen unterschiede, in denen Eltern den Arzt für ihr krankes Kind nicht bezahlen können, in denen Menschen das Grundrecht auf eine Wohnung vorenthalten wird, in denen sie sich abends hungrig ins Bett, so sie eins haben, legen, in dem sie keine Chance bekommen, eine Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen, und solchen, in denen all dies nicht der Fall ist?Flugs befänden sich die USA und Pinochets Chile, Indien und China in derselben Kategorie. Ist es so schwer nachzuvollziehen, dass diese Bedingung, dass nämlich die beispielhaft angeführten Missstände abgeschafft wurden, eine Bedingung, ohne die es nach einer anderen als der üblichen Definition keine Demokratie geben kann, für die meisten Menschen erst einmal erfüllt sein muss, dass Gesundheit, ein Dach überm Kopf, Nahrung, Bildung für diese Menschen schwerer wiegt als das Recht, zu konkurrieren, Profite zu machen, Eigentum anzuhäufen (das sie ohnedies nie erwerben werden) und auf die Regierung zu schimpfen? Dass sie „mir“ „mein Land, mein Haus“ nicht wegnehmen dürfen, ist für Joffe das Fundament aller Freiheit und damit aller Demokratie. Was aber ist mit jenen, die kein Land und kein Haus besitzen, das ihnen jemand wegnehmen könnte?Der Kampf für mehr Demokratie, auch in den armen Ländern, auch in der Dritten Welt, ist ehrenwert und soll nicht verspottet werden. Aber wer nicht realisiert, dass die größten Nöte mit demokratischen Forderungen wenig zu tun haben, wer es gar billigend hinnimmt, dass sogar in den (nach Joffes Worten: notwendig kapitalistischen) Demokratien immer mehr Menschen auf eine medizinische Behandlung verzichten müssen, wenn sie ernsthaft erkranken, wird sich selbst zum Gespött der Geschichte machen. Es gibt eine Fetischisierung der Demokratie, die zutiefst inhuman ist. Hinter ihrer verlogenen Rhetorik verbirgt sich die Verteidigung von Partikularinteressen einer privilegierten Schicht. Es lebt sich ganz gut von der Verteidigung dieser Interessen. Wer sich dafür in den Dienst nehmen lässt, muss jedenfalls nicht um das Arzthonorar für die erkrankte Tochter bangen. Das Problem hat er nicht.
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