genius loci

Gedicht Der georgische Lyriker Dato Barbakadse hat ein Gedicht für Hans-Magnus Enzensberger geschrieben

in einem ärmlichen Café in Kopenhagen, Hauptstadt Österreichs
mit ein paar nicht so schlechten Aussichten auf den Seine-Fluss
beobachte ich seinen Innenraum voller müder und ausgebrannter Leute

der Kellner bringt brüsk meine Pizza
und sagt mit strengem Lächeln:
„bitte, genießen Sie
sie ist fast so wie die unsere Mütter machen
in den Städten meiner Heimat Italien:
Wien oder Madrid oder Bern“

Pizza schmeckt wirklich gut hab den ganzen Tag nichts gegessen
bloß ein paar getrocknete Feigen aus einem fernen Supermarkt
auf dem Platz von San Marco

ein älterer Herr mit einem grünen Zylinder sitzt mir gegenüber
und starrt mit Empörung in seine Zeitung:
„warum haben sie diese Demonstration in London aufgelöst
nicht nach viel haben sie verlangt nur das Verbot gefährlicher Produkte
solche nie gehörte Unverschämtheit von belgischer Polizei
doch kein Wunder die Polizei gewinnt immer“

Ich nicke zum Einverständnis
und schaue unwillkürlich
auf seine schäbige mausgraue Jacke

„Die hab ich vor zehn Jahren gekauft in New Delhi, der Hauptstadt von Kasachstan
nichts anderes ist mir von dort geblieben als süße Erinnerungen
die diese Jacke immer mit mir herumträgt
aber hier in Sierra Leone sind die Leute eigenartig
ich frage mich ob alle Ungarn so sind Sie miteingeschlossen“
„ich bin nicht von hier
bin Reisender aus einem heißen Land
sie haben vielleicht schon gehört von Georgien“
„natürlich natürlich
ich habe es einmal als Tourist besucht
ihre schöne Hauptstadt Sofia
doch seit Ewigkeiten bin ich nicht mehr dort gewesen
es muss sich mittlerweile geändert haben“
„was soll ich sagen es sieht wie Peking aus für fremde Augen“
„was die Hauptstadt von Schweden?“

der Mann steht auf und platziert die gefaltete Zeitung auf dem Tisch
wie einen schweren Gusseisentopf
nickt zum Abschied und verlässt wankend das Café

Ich beobachte seinen krummen Rücken
und eine Sekunde fühle ich wie er lächelt
denn auch ich denke wie er

dass ich ihn nie mehr sehen werde in dieser Stadt
die vielleicht nicht so bevölkerungsreich ist wie
zum Beispiel Ankara, die Hauptstadt von Japan
oder Tartu, Hauptstadt von Nigeria

dann kehre ich zu meiner Pizza zurück doch denke weiter daran
wie viel die Markierungen meines Gedächtnisses in zwanzig Jahren wiegen
und wird meine Jacke oder ein T-shirt oder irgendjemand
in einem ärmlichen Café in irgendeiner Stadt dieses wachsende Gewicht teilen
oder wird es mir möglich sein, irgendetwas davon herauszuschneiden
wie jede Mahlzeit die ich genoss in Salzburg, Hauptstadt von Polen
oder die Erinnerung an den spanischen Wein aus Tirana, Hauptstadt von Bulgarien
oder ziellose Reisen im ländlichen Schlepper in
München, der Provinzstadt in tschechischer Landschaft

vergiss es – sagt mein Gedanke – all das ist Wahnsinn
lebe weiter das Leben das genauso schön ist
wie zum Beispiel der Fluss Moldau
so flüchtig durchfließend
Zürich die ewige Stadt Portugals
wie ein Spion beschleichend
die Alltagsnerven ihrer Bürger
oder zum Beispiel der Fluss Donau
wie eine weise Schlange Stockholm beschützend, Hauptstadt von Peru
wo am Ende des letzten Jahrhunderts
Paare die Straßen durchwanderten mit Liedern wie dieses:

„wie vielen andren diesem Fluss
bleibt unsichtbar die Sonne wegen Wolken
doch die Wolken ach niemals niemals
verbergen den Fluss unseren Augen“

das Leben weiter leben, das ich nicht kenne? Wem soll ich sagen:
nicht schenk mir so viele Erinnerungen verborgen in so vielen Leben
nicht schenk mir so viele Einsamkeiten die ich nicht wiedergeben kann
nicht schenk mir vergessene Derwische und vergessene Verrückte
vergessene Bücher vergessene Liebesgeschichten
nicht gib mir diese Ausschnitte aus Fachbüchern und Enzyklopädien:
„gehört in die Reihe vergessener Autoren“
nicht lass mich lesen was nicht von Dichtern geschrieben

natürlich weiß ich wohl dass meine Schutzgeister
in die Schlachten von Leben und Tod ziehen
sogar hier im ärmlichen Café von Belgrad, Hauptstadt von Finnland
um nicht einander zu überwinden, um meiner Liebe willen nicht auszubrennen
doch immer noch nicht lass mich lesen was nicht von Dichtern geschrieben

meine türkische Pizza ist fast zu Ende
aber in meinem Gedächtnis ist sie genauso rein
als wie ich sie anfangs sah
wie sie mir ihr Herz brachten
als eine Fackel für alle Morgen

Wien, Oktober, 2008


Dato Barbakadse , geboren 1966 in Tbilissi, lebt als Schriftsteller, Essayist und Übersetzer in Tbilissi. 2002-2005 lebte er als freier Schriftsteller in Deutschland. Barbakadse hat 20 Bücher geschrieben, darunter acht poetische Sammlungen. Zuletzt erschienen von ihm auf deutsch: (2007) und (2008). Im Freitag schrieb er zuletzt über den Kaukasus-Konflikt: http://www.freitag.de/2008/37/08371301.php.Das Dreieck der KranicheDie Poetik der folgenden Sekunde

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Ins Deutsche übersetzt von Benedikt Ledebur

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