Paris In den Achtzigern gehörte Michel Sitbon zur Hausbesetzerszene. Heute ist er Verleger, Buchhändler und Verkäufer von Vaporizern. Ein Besuch am Rande des Literaturbetriebs
Raph manövriert einen großen Karton durch die Tür. Die elektrischen Wasserpfeifen, Vaporizer genannt, lässt er sich aus den USA liefern. „Als Jugendlicher bin ich hierhergekommen, um mir Bücher über Cannabis zu kaufen. Dieser Buchladen war ein Mythos für mich und meine Freunde“, sagt Raph. „Ich fragte Michel, ob er die Vaporizer bei sich verkaufen würde.“ Neugierig nimmt Michel einen in die Hand und räumt dann ein paar Bücher aus dem Schaufenster. „Mit Literatur allein verdienst du nichts mehr. Vielleicht werden die Jungs ein paar der Maschinen los.“
Michel Sitbon, Jahrgang ’59, sitzt im bunten Leinenhemd inmitten von Bücherstapeln, Polit-Shirts und neuerdings Verdampfern für „alle Ar
22;alle Arten von Kräutern“. Wenn er im blauen Türrahmen seines Ladens steht, schaut er auf die Rue Keller im Bastille-Viertel. „Als ich vor 25 Jahren hierher zog, war es ein Treffpunkt der Schwulenszene, die Pariser Christopher Street.“ Dann seien einige Galerien gekommen, aber schon wieder fast alle verschwunden. „Gegenüber eröffnete 1995 der erste Pariser Manga-Shop, und binnen kurzer Zeit ist die Straße zum Mekka dieser Szene geworden.“ Schrille Vitrinen, vollgestopft mit Plastikfiguren, prägen heute das Bild. Unterdessen verblasst die Farbe der lebensgroßen Autoren-Porträts auf der Fassade von Hausnummer 38. Der chinesische Lebensmittelhändler nebenan hat schon mal Büchersendungen entgegengenommen, wenn Michel wieder zu wenig Geld hatte, um zu öffnen.In den Achtzigern gehört der Sohn franko-tunesischer Juden zur Pariser Hausbesetzerszene. Als die Gebäude geräumt werden, reist er monatelang durch Amerika und Europa. Von Mitterands Frankreich, in das er zurückkehrt, ist er enttäuscht: verlogen, verklemmt, elitär. Dazu eine Kaviar-Linke an der politisch-intellektuellen Spitze. Im Gepäck hat er haufenweise englischsprachige Literatur, unter anderem Studien über LSD und Cannabis. „Zu diesen Themen gab es, wenn überhaupt, polemische Texte von Drogengegnern. Es fehlte an grundlegenden Informationen. Ich dachte, dann muss ich wohl selbst Verleger werden.“ Er gründet die Éditions du Lézard und gibt Bücher über die sozialen und politischen Hintergründe von Drogenkonsum heraus. „Es war schwierig, sie zu vertreiben. Vielen Händlern waren unsere Titel anfangs nicht geheuer. Da fand ich es konsequent, einen eigenen Buchladen zu eröffnen, damit Leser sie entdecken können.“Alles, was unbequem istIm Kleinen macht es Michel wie die Großen der Branche. Unbemerkt von der bibliophilen Klientel kaufen sich Verlage wie Gallimard immer öfter anteilig in Buchläden ein, um Einfluss auf die Auswahl der angebotenen Titel zu nehmen. Der Journalist Alain Beuve-Méry warnte vor zwei Jahren in Le Monde: „Sollte diese Praxis Schule machen, sehen unsere Buchläden in zehn Jahren so aus wie der Pariser Bon Marché. Es reihen sich nur noch Verkaufsstände einzelner Marken aneinander.“Angesichts der überschaubaren Verkaufszahlen kann man Michel kaum kommerzielle Hegemonie vorwerfen. Die ideologische Ausrichtung der Buchreihen ist jedoch gewollt. Sie entspricht seiner Vision einer librairie engagée als Schnittstelle zwischen engagierter Literatur und engagierten Menschen. „Sex, Drogen und Demokratie“ habe anfangs das Motto gelautet. „So hieß eine Platte, die ich mir in Amsterdam gekauft hatte. Allerdings habe ich Sex dann schnell aus dem Programm geschmissen. Wir führten erotische Comics, aber die Leute schreckte das eher ab.“ Auf der Suche nach einem einprägsamen Namen für den Laden stieß er auf ein Buch von André Hardellet, einem verkannten französischen Schriftsteller. Seine Romane enthielten angeblich pornografische Tendenzen, und 1973 stand er deswegen vor Gericht. „Ich selbst verdiente zu der Zeit mein Geld als Herausgeber erotischer Magazine. Es gab also einige Parallelen zu Hardellet, und um ihn vor dem Vergessen zu bewahren, wählte ich den Titel seines Romans Lady Long Solo.“Michel zündet sich eine Zigarette an. Seit dem Rauchverbot von 2008 sei das im Laden erlaubt. So will er ihn auch im ganz praktischen Sinne zum Garant individueller Freiheit machen. Er zeigt auf eines der Regale in dem winzigen Verkaufsraum. „Ein bisschen Drogenliteratur steht hier noch und erinnert an unsere Anfangsjahre. Doch ansonsten findest du alle Themen, die für Frankreich unbequem sind: Atomkraft, illegale Migranten – die sogenannten sans papiers – oder die Macht des Polizeiapparats. Kurzum, die Bücher handeln vom Verschwinden der Freiheit.“Mehr als Stéphane HesselImmer wieder taucht ein Thema auf: Ruanda. „Als dort 1994 der Völkermord ausbrach, wurde mir schnell klar, dass es dabei auch um französische Politik geht. Ich fühlte mich im Stich gelassen von unseren Medien. Bis auf einige Beiträge in der Humanité wurde das Problem offensichtlich ausgeklammert. Wie konnte man der Öffentlichkeit Informationen über so ein gravierendes Ereignis verschleiern?“ Das ostafrikanische Land ist sein Schwerpunkt geworden. Unter dem Verlagsnamen L’esprit frappeur hat er zum Thema ein Dutzend Bücher und Zeitschriften herausgebracht; er engagiert sich für die strafrechtliche Verfolgung französischer Militärs und Politiker. Ihre Rolle bei der Ermordung Hunderttausender Tutsi liegt bis heute im Dunkeln.Während Michel in Gedanken noch in Kigali ist, legt ihm ein Kunde einen Wälzer und einen Geldschein vor die Nase. Weather Underground? Ja, die Abhandlung sei ein Muss über diese radikale Strömung der amerikanischen Linken. Er sei nicht zufällig hier, fügt der Käufer hinzu. „In meinen Augen ist das hier einer der letzten Orte, wo ich auf interessante Ideen stoße.“ Es gebe eine Auswahl unkonventioneller Literatur, mehr als Bestseller wie Stéphane Hessels Empört Euch. „Viele haben den Kopf in den Sand gesteckt, weil man uns weismachen wollte, dies seien Ideen von gestern. Ich glaube aber, ihnen gehört die Zukunft.“ Sagt’s, steckt das Buch in die Tasche und verschwindet.Michel lächelt, auch wenn in diesem Lächeln Verbitterung mitschwingt: „Ich sage ja, wir verkaufen kaum noch Bücher, aber dafür tauschen wir Worte und Ideen aus. Das ist vielleicht die eigentliche Berufung dieses Ortes.“ Dass dieser überhaupt noch existiert, grenzt an ein Wunder. „Ich habe keine Ahnung, wer der Vermieter ist und warum er die Miete seit 20 Jahren nicht erhöht hat. Alle Nachbarn zahlen mindestens das Dreifache. Manchmal habe ich die leise Hoffnung, da teilt jemand meine Ideale und glaubt an das, was wir machen.“So viel Glück haben nicht alle kleinen Buchhandlungen jener Grande Nation, die doch so viel Wert auf ihre exception culturelle legt. Um die Läden zu schützen, gab das französische Kulturministerium vor vier Jahren eine Untersuchung zum Buchhandel in Auftrag.Hilfloser Appell Darin wird vor dem Verschwinden kleiner Vertriebsstrukturen als unverzichtbares Bindeglied zwischen Autoren und Publikum gewarnt. Bereits ein Drittel von ihnen schreibt rote Zahlen. Durch den schnellen Rhythmus der Literaturproduktion, durch Einzelhandelsriesen und den digitalen Büchermarkt ist ihre Existenz seit Jahren bedroht. Das Centre National du Livre hat mit einem Hilfsprogramm reagiert, will kleine Betriebe finanziell fördern und hat das „Label unabhängiger Buchläden“ ins Leben gerufen. Die Leser sollen damit zurück in die Librairie um die Ecke geholt werden.Doch kann ein staatlich verordnetes Hilfsprogramm etwas gegen die auf Rekordniveau gestiegenen Mietpreise und den Online-Buchhandel ausrichten? Die Gewerkschaft des Buchhandels appelliert hilflos an die Betroffenen, selbst aktiv zu werden. Sie sollten einerseits das Internet nutzen, um ihre Kunden mit einem Bestell-Abholservice an sich zu binden. Außerdem wird empfohlen, neben dem klassischen Sortiment auch kommerzielle und kulturelle „Anreize“ für die Kunden zu schaffen.Vielleicht werden es doch die Vaporizer richten? Lady Long Solo wird auch in Zukunft den Gemütszustand Frankreichs reflektieren, glaubt Michel. Ein Spiegel sein, für das, was in Frankreich unbequem ist. Aktuell gehören dazu die „Indignés de la Bastille“. Als Spaniens Jugend im Frühjahr die Puerta del Sol besetzte, mobilisierten sich die „Empörten der Bastille“ und schlossen schnell Bekanntschaft mit Michel. Noch vergangene Woche ließ er sie auf dem Fußboden schlafen, Transparente unterstellen, Versammlungen abhalten. „Fühlt euch wie zu Hause, hab ich gesagt und ihnen die Ladenschlüssel gegeben.“ Lady Long Solo hatte geöffnet.
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