Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz begibt sich auf Zeitreise von den 20er Jahren in Wien und Berlin über die Märchenwelt und das Atomzeitalter bis zur roten Zukunft
Ein Wiener erhält in Berlin Lokalverbot, weil er die Wiener Stammgäste als Berlindicketuer verspottet hat. So seinerzeit Anton Kuh bei Schwanneke, dem damaligen Borchardt‘s. Heute hieße so ein gefragter Redner und beliebter Autor kurzer, mal bissiger, mal witziger, immer aber kluger Texte vielleicht Goldt oder Martenstein, aber nicht mehr Kuh. Ein Wiener, der nach Berlin ging, um beiden Städten immer wieder die Leviten zu lesen, vor allem eben „den zugereisten Patentberlinern vom Schlage eines Kisch, Bronnen, Fränkel, Kortner“, sozusagen den damaligen Schwaben. Ein ganz eigener Kopf. Nun ist in einer kleinen, wohlsortierten Auswahl wieder nachzulesen, wie hellsichtig Kuh, der 1941 im Exil starb, die zwanziger Jahre beobachtete und kommentierte. Ei
und kommentierte. Eine Zeitreise diesseits der Geschichtsbücher – und ein süßsaurer Genuss, sozusagen Jurje mit Schlagobers. Lieblingsmerksatz für das Heute der Shitstormer: „Und der Spießer hatte nicht die Freiheit – sie den anderen zu nehmen.“Wenn Michael Maar über Literatur schreibt, gibt es immer doppelt zu entdecken: das, was er ausleuchtet, wo andere im Dunkeln tappten, und die Klugheit und Eleganz seiner Formulierungen. Diesmal hat er sich die Grimmschen Märchen vorgenommen. An die stellt er märchenhaft einfache Fragen, wie: Wenn vier Brüder je das halbe Königreich bekommen, was ist das für einen Rechenart? Was sollen zusätzliche Giftschlangen im Fass mit siedendem Öl, in das die böse Stiefmutter gesteckt wird? Alltagslogik hat da freilich nichts zu sagen. Aber Spuren der Geschichte gibt es in diesen unlogischen Geschichten. Hänsel und Gretel im Dreißigjährigen Krieg zum Beispiel – aber auch Spuren von dem, was die Grimms so alles aus dem von ihnen Gesammelten rausoperierten, ähnlich wie in Hollywood: Grausamkeit rein, Sex und Erotik raus. Dass Rapunzel infolge der nächtlichen Besuche des an ihrem Haar heraufkletternden Königsohns allmählich die Kleider zu eng werden, das ging nicht an! Richtig raffiniert zweideutig und verdrängt aber geht es dann bei Andersen zu, dessen Seejungfrau zum Selbstbild des männerhingezogenen Märchendichters wird. Ein schön gemachtes Büchlein, wieder einmal für eine rundum runde Lesestunde gut!1982 kam Atomic Café heraus, eine Collage aus Werbe-, Informations- und ähnlichen Filmen über Atombomben und möglichen Atomkrieg. Seither hat der Film von Jahr zu Jahr an Absurdität gewonnen. Dabei gibt es, zeigt nun ein Buch, noch mehr, nicht weniger Absurdes, aber auch Traurigeres und Beängstigenderes zu erzählen. Zum Beispiel wie Howard Hughes mit Susan Hayward und John Wayne einen Film über Dschingis Khan in einer Gegend drehen ließ, die von einem der schmutzigsten Atomtestversuche verstrahlt war. Hayward und Wayne starben später an Lungenkrebs, fast die Hälfte des Teams wurde krebskrank. Ausgerechnet Hughes half 1968 dabei, ein gesunkenes russisches Atom-U-Boot heimlich zu bergen. Die Briten verstrahlten Australier, die Amerikaner unter anderem Südseeinsulaner, Amerikaner, Inuit und Dänen, die Russen wiederum Russen, Inuit, Kasachen und so fort. Verrotteter Reaktor im Kongo, vergessene Strahlenkanone in Brasilien. Ein Wunder, dass man überhaupt noch Gelegenheit hat, sich zu wundern. Hier nüchtern und abwägend erzählt, ein Fall für unentwegtes Kopfschütteln und Schaudern.Dies nun ist ein Buch, eine dicke Schwarte, über das man seitenlang hymnend schreiben könnte, so klug, spritzig, temporeich und präzise, wie es ist! Wenn man sich jedoch kurz fassen muss, dann so: Ein Engländer nimmt die Perspektive von Russen auf die Amerikaner ein, wobei die Russen amerikanischer, die Amerikaner russischer werden. Fabeln des Überflusses. Das ist eine Art Aktualisierung von Tretjakows Biografie des Dings, ein atemberaubend vielseitiger und unterhaltsamer Tatsachenroman über die Wirtschaft der Sowjetunion, zugleich eine Zeitreise in den Kalten Krieg, in die Jahre zwischen Chruschtschow und Kossygin/Breschnew, also 1959 – 1966, jene Zeit, in der die Sowjetunion auf dem besten Wege war, die Amerikaner in jeder Hinsicht nicht nur ein-, sondern zu überholen. Leider bekam der reale, zunächst rasende Fortschritt durch die Planwirtschaft und die Versuche, sie zu steuern, einen anderen Fortschritt auf den Rücken gebunden, der ihn zunehmend lähmte, bis hin zum Ordnungsverlust dieses Systems der Pläne und Kontrollen, dessen Bestandteile sich wechselseitig bekämpften, und die, die es zu reparieren versuchten, darin zermürbte. Oder, um den entmachteten Chruschtschow zu zitieren: „Das Paradies ist ein Ort, an dem die Menschen ankommen wollen, und keiner, von dem sie sich entfernen. Was für eine Art von Sozialismus soll das sein? Was für eine Scheiße ist das, wenn man die Leute mit Ketten halten muss? Was für eine Gesellschaftsordnung? Was für eine Art von Paradies?“
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