Von einem spannenden Wahlkampf kann keine Rede sein. Manche politische Großbaustellen tauchten bisher erst gar nicht auf – zum Beispiel die Themen Migration und Integration. Als vor ein paar Tagen die Kandidaten vor den Fernsehzuschauern aufeinander trafen, entbrannte weder ein Streit über die Bilanz der großen Koalition, noch wurde um bessere Konzepte für die nächsten vier Jahre gerungen. Als ob die Zugewanderten und ihre Nachfahren gar nicht existieren. Immerhin geht es um fast ein Fünftel der Bevölkerung.
Einen zaghaften Vorstoß wagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries. Im August sprach sich die SPD-Ressortchefin für die Abschaffung des Optionsmodells und die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft aus. Noch im April hatte i
il hatte ihre Partei gemeinsam mit der Union im Bundestag dagegen gestimmt. Doch Zypries' Initiative wurde nicht weiter aufgegriffen. Dabei hätte sie durchaus Potential, zu einem Wahlkampfrenner zu werden. Das Optionsmodell zwingt Migranten zu der Entscheidung, sich entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft zu entscheiden, oder für diejenige des Herkunftslandes. Das ist in Zeiten einer globalisierten Ökonomie nicht nachvollziehbar. Zudem wird mit doppeltem Standart argumentiert. In der Mehrheitsgesellschaft und bei EU-Bürgern gilt Mehrstaatlichkeit als Ressource, bei Migranten als Ausdruck mangelnden Vertrauens. In Wahlzeiten wird zudem die demokratietheoretische Seite des Problems offenkundig: Einbürgerung ist die Voraussetzung dafür, an Wahlen teilzunehmen. Derzeit verzichten hunderttausende Migranten, die seit Jahren in der Bundesrepublik leben, auf beides, weil sie ihre ausländische Staatsangehörigkeit nicht abgeben wollen.Bereits jetzt haben neun Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund – immerhin 5,6 Millionen Menschen. Türkische Gastarbeiter und ihre erwachsenen Kinder, Russlanddeutsche und Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien zum Beispiel. Ihre Zahl wird in Zukunft wachsen. In den kommenden Jahren werden jährlich allein über 200.000 Deutsche mit Migrationshintergrund volljährig.Darüber, wie diese Menschen abstimmen, ist wenig bekannt. Die Daten, die vorliegen, weichen deutlich vom gewohnten Umfragebild ab. Als im März das Marktforschungsunternehmens Data4U türkeistämmige Deutsche befragte, kamen überraschende Ergebnisse zustande: Die SPD erreichte die absolute Mehrheit – viele Migranten sind Arbeiter. Die Grünen kamen als Zweitplatzierte auf über 23 Prozent, Union und Linkspartei lagen gleichauf bei etwa 10 Prozent. Die FDP spielte etwas überraschend keine Rolle – ihr Werben um den Mittelstand und die liberale Haltung in Ausländerrechtsfragen scheinen die Deutsch-Türken, viele von ihnen Familienunternehmer, nicht überzeugt zu haben.Befragt man deutsche Muslime insgesamt, ist die Abweichung noch größer. Nach Zahlen des Islam-Archivs in Soest hat auch in dieser Gruppe die SPD die Nase vorn – deutlich vor den Grünen. CDU/CSU, Linke und FDP würden allerdings an der Fünfprozenthürde scheitern. Jeweils ein Fünftel wollen entweder gar nicht zur Wahl gehen oder waren noch unentschieden. Im Lichte solcher Umfragen kann von einer politischen Integration kaum die Rede sein.Im Bundestag sieht es nicht viel besser aus. Dort sitzen derzeit elf Abgeordnete mit Migrationshintergrund, weniger als zwölf Prozent aller Volksvertreter. Sie sind vor allem für Integrationspolitik zuständig. Bei rund 15 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Wanderungsgeschichte (knapp 19 Prozent der Bevölkerung) ist das sehr wenig. Für die kommende Legislaturperiode befürchtet Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, sogar, dass diese Zahl weiter sinken könnte. Zwar gebe es zahlreiche Kandidaten, jedoch wurden diese überwiegend auf wenig aussichtsreiche Listenplätzen gesetzt. Selbst der Einzug von „Yes We Cem“ Özdemir in den Bundestag ist alles andere als gewiss. Auch der Grünen-Chef hat sich für mehr Migranten in der Politik ausgesprochen. Integration wäre dann erreicht, so Özdemir, wenn es selbstverständlich ist, dass sich ein deutschstämmiger Politiker um Migrationspolitik kümmere und eine türkischstämmige Politikerin um Finanzen.Vor diesem Hintergrund hat Kolat die türkeistämmigen Wahlberechtigten zu einer „taktischen" Stimmabgabe aufgerufen. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit sollen Kandidaten mit einem türkischen Hintergrund gewählt werden. Das klingt ein wenig nach politischer Parallelgesellschaft und zeugt von dem geringen Vertrauen in die Parteien. Dass diese über das Thema schweigen, hat auch Kolat bemerkt. Um den Debatten künftig auf die Sprünge zu helfen, fordert er die Einrichtung eines Ministeriums für Partizipation und Migration, auch ein Parlamentsausschuss solle sich zukünftig regelmäßig mit dem Thema befassen.Die SPD scheint die Signale erhört zu haben. Gerade erst hat Frank-Walter Steinmeier in der türkischen Zeitung Türkiye für die doppelte Staatsbürgerschaft geworben. Und in ihrem Wahlprogramm haben die Sozialdemokraten den Namen des Bildungsministeriums schon einmal um den Begriff Integration erweitert.