Weg der Opfer

Gedenken Eine Kundgebung in Berlin zum 71. Jahrestag der Pogrom-Nacht erinnerte daran, dass nicht nur Adolf Hitler, SS und Gestapo die Täter waren

Warum kommen zwischen 1.500 und 2.000 Menschen – überwiegend jüngere und junge, auch einige Kinder und alte Leute – zusammen, um bei fünf Grad und Daurregen drei Stunden lang einer Auftakt-, Zwischen- und Abschlusskundgebung zu lauschen und den elend langen Weg zwischen dem Mahnmal an der ehemaligen Synagoge in der Moabiter Levetzowstraße bis zum Deportationsmahnmal auf der Putlitzbrücke zu laufen? Weil diese Leute der „Reichspogromnacht“ gedenken wollten, „damals“, vor 71 Jahren, am 9. November 1938. Genau diesen Weg gingen ab 1942 über 30.000 der insgesamt 50.000 deportierten Berliner Juden.


Aber während wir Nachgeborene – frierend und tropfnass – danach in die warme S-Bahn steigen, warteten auf diese Zehntausende, nichts als kalte, zugige Viehwaggons. Und am Ziel standen noch kältere Ghetto-Behausungen oder die überfüllten Baracken der Konzentrationslager oder die Gaskammer von Auschwitz, Treblinka und Majdanek. Heute wartet keine Gestapo auf die Veranstalter – die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) – umgekehrt: Heute muss die Polizei entsetzlicher Weise eine solche Kundgebung vor möglichen Angriffen rechtsextremer, rassistischer oder antisemitischer Gegner schützen. So begründete der Polizeibeamte, der mich durchsucht, sein Handeln. Also keine „Kriminalisierung der Kundgebung“, wie Herr Hans Coppi, Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) in seiner Rede befürchtet.

Auf dem langen Marsch verlasen Sprecher der AIM vor bestimmten Häusern Lebensberichte über Menschen, die dort gelebt hatten und in den Tod gingen. Aber es gab auch Häuser, in denen Menschen überlebten, weil einzelne mutige Mitbürger sie unter Lebensgefahr versteckten. Die AIM betont immer wieder, wie öffentlich diese Deportationen seinerzeit geschahen: Wie die Leute von den Balkonen aus zusahen, wenn die SS jüdische Mitmenschen am helllichtem Tag abholte, wie sich Vermieter am Pogrom vom 9. November 1938 bereicherten. Die SA verwüstete die Wohnungen, und die jüdischen Mieter waren gezwungen, den entstandenen „Tumultschaden“, wie es damals hieß, an die arischen Hauseigentümer zu bezahlen.

Hurra am Brandenburger Tor

Die Gedenkdemonstration verstand sich nicht zuletzt als „Gegenpart“ zum verstaatlichten „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor mit fallenden Dominosteinen und sprühendem Feuerwerk. Dort sollte jener „Wohlfühltaumel“ (Hans Coppi) erzeugt werden, der auch die Erinnerung daran verschluckt, dass damals zwischen NS-Regime und deutscher Mehrheitsbevölkerung die Reihen fest geschlossen waren – gegen Jüdinnen und Juden, aber auch gegen Sinti und Roma und alle anderen, deren Leben als „lebensunwert“ galt.

Die 9/11-Staats-Botschaft am Brandenburger Tor lautet: Hurra! – der NS-Staat und der DDR-Staat –zwei Diktaturen sind überwunden, und die einzige wirklich wichtige Opfergruppe sind „Wir-Deutsche“. Indem die Demonstranten zwischen Levetzow-Straße und Putlitz-Brücke den Weg der Opfer nahmen, erinnerten sie auch daran, dass es Täter gab: Nicht nur Adolf Hitler, die SS und die Gestapo – auch der „liebe Nachbar“ von nebenan war beteiligt.



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Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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