Abnehmende Soli-Kurve

Heitmeyer-Studie Vorurteile gegenüber Schwächeren haben abgenommen, aber die Krise macht die Menschen orientierungslos und unzufrieden. Die Bedrohung findet kein politisches Ventil

Dem Namen Wilhelm Heitmeyer eilt ein Ruf voraus. Es ist kein guter Ruf, jedenfalls kein schmeichelnder, es ist der eines unermüdlichen Warners, der jedes Jahr im Dezember, wenige Wochen vor Weihnachten, dem viele harmoniesüchtig entgegen fiebern, schlechte Nachrichten überbringt und das Neueste aus der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" präsentiert. Weil er um diesen Ruf weiß, überbringt Heitmeyer diesmal die guten Nachrichten zuerst: Die Kurve, die über die feindseligen Einstellungen der Deutschen Auskunft gibt, geht im Allgemeinen leicht nach unten, was soviel heißt wie: die abwertenden Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwächeren Gruppen wie Einwanderern, Muslimen, Frauen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen (die erst seit 2007 erfasst werden) zeigen eine sinkende Tendenz. Ausnahme: Juden und Homosexuelle, denen gegenüber abwertende Einstellungen zunehmen.

Seit 2002 untersucht das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer in einer einzigartigen auf zehn Jahre angelegten Langzeitstudie die menschenfeindlichen Einstellungen der Deutschen, die die Wissenschaftler unter dem Kürzel GMF (gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) als Syndrom klassifiziert haben. Syndrom bedeutet dabei, dass die einzelnen Vorurteile miteinander zusammenhängen, dass also jemand, der einer sexistischen Äußerung zustimmt, auch eher einem fremdenfeindlichen und einem rassistischen Vorurteil zuspricht.

Das Krisen-Syndrom

Jedes Jahr erhebt die Forschergruppe zusätzlich Daten in Bezug auf ein bestimmtes Thema, diesmal steht die Krise im Mittelpunkt. Die Daten wurden also im Hinblick auf die Frage geprüft, ob die Krise sich bereits in dem Syndrom ausdrückt, also Menschen abgewertet werden, weil man sich durch die Krise bedroht fühlt. Interessant dabei ist, dass festgestellt wurde, dass man nicht sagen kann, Menschen, die sich persönlich und individuell durch die Krise bedroht fühlen, würden andere Menschen aggressiver abwehren. Eine individuelle Krisenbedrohung führt also nicht automatisch zu Vorurteilen. Anders ist es, wenn man sich einer Gruppe zugehörig fühlt, von der man denkt, dass sie unter der Krise leidet wie etwa „die kleinen Leute“. Dann neigen diese eher dazu, den Konsens von Gleichwertigkeit und Solidarität aufzukündigen.
Die Schuld für die Krise wird eher gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben, die als erfolgreich gelten wie „Banker und Spekulanten“ (89,1 Prozent tun dies). Vielleicht lassen sich so auch die ansteigenden antisemitischen Vorurteile erklären, denn ein klassisches Stereotyp beruht auf „dem Juden“ in der Rolle des Finanzspekulanten. Diejenigen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem für die Krise verantwortlich machen (73,2 Prozent), reagieren übrigens nicht mit steigender Abwertung von gesellschaftlichen Gruppen.

Wenig Vertrauen in Politiker

Betroffen von der Krise fühlen sich vor allem Menschen in unteren sozialen Lagen (46,9 Prozent). Bedroht fühlen sich auch solche in mittleren (51,8 Prozent) und gehobenen sozialen Lagen (39,6 Prozent). Unabhängig von der sozialen Lage empfinden aber über 90 Prozent der Bevölkerung eine große Wut über die Folgen der Krise. Die ist es auch, die den Heitmeyer und seinem Team Sorgen bereitet. Und zwar vor allem deshalb, weil die Menschen ihre Wut nicht „politisiert“. Statt an Demonstrationen teilzunehmen oder zu politischen Veranstaltungen zu gehen, sind die Leute mehrheitlich eher desorientiert und beteiligen sich auch weniger an Wahlen. Das Vertrauen in die Politiker schwindet und die Mehrheit fühlt sich hilflos und unzufrieden.

Dieses Ergebnis ist – trotz aller guten Nachrichten zu Beginn – denn doch beunruhigend. Zur Disposition stehen laut Heitmeyer nicht weniger als die Kernnormen der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Fairness innerhalb der Gesellschaft. Und diese Situation bereitet den Boden für Rechtspopulisten, die daraus schlagen könnten. Zum Glück, so der ewige Warner Heitmeyer, gibt es derzeit in Deutschland keinen wie Geert Wilders, dem es in den Niederlanden gelingt, die Ängste in der Bevölkerung für seine rechtspopulistischen Zwecke zu instrumentalisieren.


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Geschrieben von

Connie Uschtrin

Redakteurin Politik

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