Das Geheimnis als Offenbarungseid

Wikileaks-Coup Neueste Wikileaks-Publikationen weisen auf ein gigantisches Datenleck im US-Außenministerium, aber auch auf das Ende der klassischen Diplomatie im Internetzeitalter

Wir leben in einer Welt, die letzte Gewissheiten wie Streichhölzer knickt. Was ist an der amerikanischen Diplomatie noch integer, zuverlässig, berechenbar, wenn sie gewaltige Datenlecks nicht ausschließen kann? Oder will? Man fragt sich, welchen Sinn die gerade mit der neuen NATO-Strategie beschworene Abwehr von Cyber-Attacks beansprucht, da die Regierung der NATO-Führungsmacht in ihrem Geschäftsverkehr offenbar über so viele undichte Stellen verfügt, dass es aus allen Löchern ausdauernd tropft? Wie angreifbar sind Informationssysteme, die keinen oder nur noch geringen Vertrauensschutz versprechen? Oder darauf angelegt sind, nicht die Garantien an Seriosität und Klientenschutz zu bieten, die bisher üblich waren und erwartet wurden.

Sollte das der Fall sein, hat die klassische Diplomatie ausgedient und wird zur Vorlage für den permanenten Offenbarungseid (oder Verrat), den zu leisten oder nicht zu leisten politischem Kalkül unterliegt. Wer künftig im Auftrag seines Staates verhandelt, wird das in dem Bewusstsein tun, dass die Gegenseite interne Informationen nicht ausreichend schützen und sich durch Verweis auf eine gewisse Datentransparenz von jeder Schuld freisprechen kann. Wenn freilich Verhandlungen nicht mehr geheim bleiben, kann getrost darauf verzichtet werden. Diplomatie wäre erledigt – und zu ersetzen wodurch?

Was nun den Einschätzungen etwa der US-Botschaft in Berlin zu entnehmen ist, mag peinlich sein, über Gebühr erstaunen lässt es ebenso wenig, wie das bei den vor Wochen durch die von Wikileaks publizierten US-Feldberichte über den Irak-Krieg geraten schien. Wenn die deutsche Kanzlerin als risikoscheu und wenig kreativ beschrieben wird, kann das nur jeder bestätigen, der vorurteilsfrei verfolgt, wie Frau Merkel seit fünf Jahren regiert. Bleibt zu hoffen, dass es im Stab von US-Botschafter Philip Murphy am Pariser Platz auch jemandem auffällt, mit welch kapitalen handwerklichen Fehlern die Bundesregierung seit einem halben Jahr die Euro-Krise managt.

Brisanter freilich als Testimonials über hiesige Regierungskunst sind die mit den jetzigen Veröffentlichungen bei Wikileaks ausgelösten Erkenntnisse über den weltweiten Anti-Terror-Kampf. Die US-Regierung soll die kurdische PKK und deren Autonomiebestrebungen unterstützt haben. Warum eigentlich nicht? Wenn sich damit der zuweilen sperrige Partner in Ankara unter Druck setzen lässt, ist das ein taktisches Gebaren, dem die Logik zu Diensten und die Moral nur lästig ist. Da führen Bündnisidentitäten eben nicht zu Bündnisloyalitäten, sondern lösen sich in Wohlgefallen auf. Andererseits hatten US-Diplomaten aus Ankara zu berichten, dass der NATO-Partner Türkei offenkundig Al-Qaida-Netzwerken im Irak Beistand leistet. Und damit indirekt oder direkt den Tod amerikanischer Soldaten mit zu verantworten hat? Wer hätte gedacht, dass der Kampf gegen den Terror ein solches Maß an Kreativität und so viel Sinn für Variabilität bei der Partnerschaftspflege erzeugt. Weshalb wird er dann eigentlich geführt, wenn jeder mit jedem kann und darf? Wenn die Fronten verschwimmen, weil auf beiden Seiten die Überläufer in Bereitschaft stehen?

Es gehört zu den Political-Correctness-Exerzitien gesinnungsethischer Platzwarte hierzulande, darauf zu achten, dass die PKK stets mit dem Label „Terrororganisation“ versehen wird. Welche Kennzeichnung finden fortan deren Kooperationspartner? Mit einem Wort, auch auf diesem Feld haben die Gewissheiten jedes Gewiss-Sein verloren. Die Zahl der Gessler-Hüte, die zu grüßen gerade noch so verlangt werden kann, schrumpft beängstigend. Die edlen zivilisatorischen Motive des globalen Anti-Terror-Kampfes gehören nicht mehr dazu. Sie werden langsam beängstigend knapp, die pflichtschuldigen Gesten, mit denen Konformisten ihre Karrieren befeuern können, ohne sich lächerlich zu machen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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