Ein unscheinbarer Memory-Stick, nicht länger als zwei Fingernägel, landete vor einiger Zeit in den Händen eines Guardian-Reporters. Das Gerät war so klein, dass man es problemlos an einem Schlüsselanhänger hätte befestigen können. Doch sein Inhalt wird weltweit Schockwellen durch die Botschaftskanzleien jagen und der Diplomatie der USA einen „monumentalen Schlag“ versetzen, um es mit den Worten eines Beamten zu sagen.
Die 1,6 Gigabyte Text-Dateien enthalten Millionen von Wörtern; es ist der Inhalt von über 250.000 durchgestochenen Depeschen des Außenministeriums, die von US-Botschaften auf der ganzen Welt stammen oder diesen zugesandt wurden.
In den kommenden Tagen und Wochen wird ein nie dagewesenes Bild der geheimen Diploma
Bild der geheimen Diplomatie der letzten Supermacht der Welt kenntlich werden. Alles in allem sind es 251.287 Sendungen von über 250 Botschaften und Konsulaten. Sie zeigen auf, wie die USA sowohl mit ihren Verbündeten als auch mit ihren Gegnern umgehen – Verhandeln, Druck ausüben, und manchmal werden ausländische Staatsoberhäupter brüsk verunglimpft – das alles hinter einer Brandmauer aus Chiffren und der Geheimhaltung, von der die Diplomaten annahmen, dass sie sicher sei.Neben gewöhnlichen politischen Analysen enthalten einige der Depeschen auch detaillierte Berichte über die Korruption durch ausländische Regime sowie nachrichtendienstliche Informationen über Waffenlieferungen, Menschenhandel und Versuche der Möchtegern-Atommächte Iran und Libyen, Sanktionen zu durchbrechen. Einige basieren auf Interviews mit Quellen vor Ort, während andere einen allgemeinen Eindruck wiedergeben oder Briefings für hochrangige Besucher des US-Außenministeriums sind, die mit den Feinheiten vor Ort vielleicht nicht vertraut sind.Die Depeschen sind in der Regel für Beamte in Washington bis hin zur Ebene der Außenministerin bestimmt und wurden von Botschaftern oder ihren Angestellten verfasst. Obwohl ihr Inhalt oft irritierend und besorgniserregend ist, werden sie kaum die Erwartungen der Verschwörungstheoretiker befriedigen. Sie enthalten keine Belege für Mordanschläge, Bestechungsskandale innerhalb der CIA oder kriminelle Machenschaften wie der Iran-Contra-Skandal der Reagan-Jahren, als die Guerilla in Nicaragua verdeckt finanziert wurde.Ein Grund dafür könnte sein, dass die sensibelsten der „Top Secret“-Informationen der USA und die Dateien ausländischer Geheimdienste nicht über Siprnet, das Netzwerk des Verteidigungsministeriums, zugänglich sind.Das US-Militär meint den Urspungs des Datenlecks zu kennen. Der 22-jährige Soldat Bradley Manning sitzt seit sieben Monaten in Isolationshaft und soll im nächsten Jahr vor Gericht gestellt werden. Ihm wird der unbefugte Download geheimen Materials während seiner Dienstzeit auf einem Armeestützpunkt außerhalb Bagdads vorgeworfen.Laut einem Chat zwischen Manning und einem anderen Hacker soll es ein Kinderspiel gewesen sein, das Material zu entwenden. „Ich ging mit einer CD-RW hin, auf der zum Beispiel „Lady Gaga“ stand … löschte die Musik …. dann schrieb ich eine komprimierte Split-Datei. Keiner hatte auch nur den geringsten Verdacht ... [Ich] hörte Lady Gagas Telephone und bewegte meine Lippen zu dem Song, während ich die größte Menge klassifizierter Daten in der Geschichte der USA herausfilterte.“ Er sagt, er habe „14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, acht Monate lang einen beispiellosen Zugang zu geheimen Netzwerken“ gehabt.Manning sagte gegenüber dem Hacker Adrian Lamo, der ihn später bei den Behörden denunzierte: „Informationen sollten frei sein. Sie gehören der Allgemeinheit."Aus den Protokollen des Chats geht hervor, dass Manning die Kopien bei Wikileaks hochlud, den „Aktivisten für Informationsfreiheit“, wie er sie nennt, deren Kopf der Australier Julian Assange ist.Assange und sein Kreis entschieden sich offensichtlich dagegen, die Depeschen sofort zu veröffentlichen. Stattdessen begannen sie mit einer stufenweisen Veröffentlichung des anderen Materials – mit dem Ziel, wie sie auf ihrer Webseite schrieben, „die politische Wirkung zu vergrößern“.Im April veröffentlichte die Gruppe im Rahmen einer Pressekonferenz das Video des Apache-Helikopters, das sie „Collateral Murder“ nannten.Guardian-Autor Nick Davies konnte mit Assange eine Übereinkuft aushandeln, zwei weitere Datensätze mit militärischen Berichten aus dem Irak und Afghanistan im Vorfeld zu veröffentlichen, damit Journalisten sie analysieren konnten. Die Analysen erschienen gleichzeitig im Spiegel, der New York Times und im Guardian und enthüllten, dass die Koalitionsstreitkräfte Zivilisten bei vorher unerwähnten Feuergefechten getötet hatten und Gefangene aushändigten, die dann gefoltert wurden.Die Enthüllungen verschafften Assange und Wikileaks weltweite Bekanntheit, führten aber auch zu wütenden Anprangerungen seitens des Pentagons und Forderungen der extremen Rechten, Assange zu verhaften oder gar umzubringen. Schweden hat vor Kurzem einen internationalen Haftbefehl gegen Assange erlassen, um mutmaßliche sexuelle Übergriffe zu untersuchen. Sein Anwalt sagt, Hintergrund der Anschuldigungen sei ungeschützter, aber ansonsten einvernehmlicher Sex mit zwei Frauen.Ein Expertenteam des Guardian hat Monate damit verbracht, die aktuellen Depeschen zu durchkämmen. Unterstützt wurde es von der Aktivistin Heather Brooke, die durch ihre eigenen Kontakte eine Kopie des Datensatzes bekam. Wie bei den vorherigen Veröffentlichungen hat der Guardian auch dieses Mal Informationen entfernt, die einzelne Personen gefährden könnten.