Das Wetter ist so trübe wie die Stimmung. Auf der Wiese vor dem Berliner Reichstagsgebäude hat sich eine kleine Gruppe Demonstranten versammelt, im Nieselregen fällt sie kaum auf. Die Protestierer sind unzufrieden mit dem Atomausstieg, wie ihn Koalition, SPD und Grüne heute beschlossen haben. Aber nicht, weil die Kraftwerke noch elf Jahre weiterlaufen dürfen. Sondern weil danach Schluss sein soll. Die meisten Demonstranten haben über Facebook von der Kundgebung erfahren. Feste Pro-Atomkraft-Gruppen gibt es kaum.
„Kernkraft? Na klar“, steht auf der Fahne, die zwei jüngere Männer festhalten. Andere tragen Schilder, die an Holzstangen befestigt sind. „Kernkraft? Ja bitte!“ Das Logo ist von der Anti-AKW-Bewegung geklaut und leicht
nd leicht verfremdet. Statt einer Sonne ist auf den Schildern ein lachender Atomkern zu sehen.Deindustrialisierung DeutschlandsDie Demonstranten haben einen kleinen Tisch aufgebaut, darauf liegen Flugblätter. Darin wird vor „Verteuerung der Stromkosten“ gewarnt, auch vor einem „Verlust von Arbeitsplätzen“. Aber es kommt noch besser: Die „Deindustrialisierung Deutschlands“ stehe bevor, wenn die Bundesrepublik aus der Atomenergie aussteigt. Dann könne man sich bald auch „keine Sozialsysteme mehr leisten“.Weltuntergang-Stimmung bei den Atomfans? Grund dafür gäbe es durchaus. Im letzten Herbst hatten Union und FDP noch eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Kraftwerke beschlossen, dann kam Fukushima. Merkel, Röttgen und Co. mutierten zu Atomkraftgegnern, jetzt gibt es einen großen Konsens von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen. Nur die Linken sind dagegen – sie wollen noch schneller aussteigen.Vergleichen und relativierenDie Protestierer vor dem Reichstag können die schwarz-gelbe Kehrtwende nicht verstehen. Die Katastrophe von Fukushima? Halb so schlimm. „Gibt es wirklich einen GAU?“, fragt Matthias Kraume, der die Mahnwache angemeldet hat. Strahlentote gebe es jedenfalls nicht. Ein Mitstreiter mischt sich ein: Zwar könne die Gegend um den havarierten Reaktor nicht mehr genutzt werden, man müsse aber „vergleichen, wenn wir mehr CO2 emittieren, wie viel Fläche dann verloren geht“.Vergleichen und relativieren – das sind hier die Argumente. Bei den Strahlentoten von Tschernobyl müsse die Feinstaubbelastung durch Kohlekraftwerke gegengerechnet werden, heißt es da schonmal. Und auch der Atommüll sei gar nicht so problematisch, wie hinlänglich angenommen. Schließlich gebe es „noch andere chemische Stoffe, die gefährlicher sind“.Die meisten Demonstranten arbeiten in der Nuklearindustrie. Zwei Männer sind extra aus der Nähe von Frankfurt in die Hauptstadt gereist. Sie vertreten ein Ingenieurbüro, in dem knapp 50 Menschen arbeiten. 80 Prozent der Aufträge kommen von der Atomindustrie. Würde der Ausstieg ihre Arbeit verändern? „Auf jeden Fall.“Neue AKW? Ja bitte!Bei Anmelder Kraume ist das anders. Er steht hier aus rein politischer Überzeugung. „Mein Herzthema ist die Zukunft Deutschlands“, sagt er. Schon gestern ist er aus Essen angereist, hat sich für die Demonstration extra frei genommen. Er habe nichts dagegen, wenn die alten Reaktoren abgeschaltet würden, sagt er. Dafür müssten dann aber „mindestens das Doppelte an neuen Kernkraftwerken“ gebaut werden. Kraume sehnt sich nach der Zeit, als noch bis zu 500 deutsche Meiler geplant waren. „Das hätte man weiterführen sollen.“Doch es kam anders, die atomare Euphorie wich einer nüchternen Betrachtung, später gerieten Umweltbedenken immer stärker in den Vordergrund. Inzwischen gibt es in der Bevölkerung stabile Mehrheiten für einen Ausstieg. Kraume will das nicht wahrhaben: „Die wirkliche Meinung der Deutschen ist immer noch etwas anderes als eine Statistik.“Bei Greenpeace sind es auch nicht mehrTrotzdem ist nur eine Handvoll an Atomkraftbefürwortern zum Reichstag gekommen. Vielleicht ist es der Regen, gegen den sich die Demonstranten mit Schirmen schützen. Vielleicht ist es der Zeitpunkt – mitten in der Woche müssen viele arbeiten.Immerhin: Bei Greenpeace sind es auch nicht mehr. In Sichtweite der Pro-Atomkraft-Demo haben Umweltschützer vor dem Kanzleramt einen Briefkasten aufgebaut, der so groß ist wie ein Container. Schon seit gestern sind die Greenpeace-Aktivisten damit beschäftigt, die 262.744 Unterschriften für einen schnelleren Ausstieg einzuwerfen – die Forderung richtet sich an Angela Merkel.Um deren Aufmerksamkeit kämpfen auch die Atomfans vor dem Reichstag. Viele AKW-Arbeiter sind zu Hause geblieben. Einige Betriebsräte wollten Busse organisieren, doch die Mobilisierungsversuche wurden von ihren Arbeitgebern gestoppt, erzählt Kraume. Ein anderer sagt dazu: „Die Energieversorger haben kein Interesse an Kernkraft.“Geopfert für Schwarz-GrünVerraten von der Wirtschaft, aber auch von der Politik. Die Demonstranten sind wütend auf CDU-Umweltminister Norbert Röttgen. Er soll gesagt haben, dass der Atomausstieg vorteilhaft sei, um mit den Grünen besser zusammenarbeiten zu können.„Wir sind geopfert worden für neue politische Konstellationen“, empört sich ein Demonstrant mit ründlichem Gesicht, Anzug und Krawatte. Jan-Christian Lewitz ist Geschäftsführer der Atomfirma LTZ-Consulting. Gleichzeitig ist er aber auch engagiertes CDU-Mitglied. „Die Parteibasis hat eine andere Meinung als die Funktionäre“, meint er.Doch der Ausstieg wird beschlossen, auch die Union will weg von der Kernkraft. Muss sich Lewitz eine neue politische Heimat suchen? „Ich bin noch dabei, solange ich Einfluss nehmen kann.“