Piraten Erfolg in Großstädten haben sie. Ob der Politaufsteiger des Jahres über die urbanen Milieus hinauswachsen kann, wird sich bald in Schleswig-Holstein zeigen
Torge Schmidt trägt kurze Haare, einen schwarzen Kapuzenpullover und Kinnbart, er ist Mitglied der Piraten. Mit einem Kopftuch oder einer orangefarbenen Latzhose würde er nicht auftreten. Schmidt unterscheidet sich von seinen Berliner Parteifreunden, so wie sich der Landesverband Schleswig-Holstein, der ihn im Oktober zum Spitzenkandidaten wählte, vom Berliner Landesverband unterscheidet. Die Mitglieder sind älter, die Themen andere: weniger Internet, mehr Agrar. Schmidt will nun beweisen, dass die Piraten auch auf dem Lande punkten können. Dazu muss er bei der Wahl in Schleswig-Holstein im Mai 2012 die Fünf-Prozent-Hürde knacken.
„Wenn wir dort den Einzug ins Parlament schaffen, ist das Argument obsolet, dass wir nur im urbanen Raum erfolgreich sind
reich sind“, sagt Schmidt. Es ist das Vorurteil, gegen das er immer ankämpfen muss: dass die Partei nur in Großstädten, nur von jungen Leuten, nur von Studenten und Freiberuflern gewählt werde. Dass die Piraten kein Hauptstadt-Phänomen mehr sind, darin sind sich mittlerweile fast alle Beobachter einig – und die bundesweiten Umfrageergebnisse, stabil bei etwa sechs Prozent, beweisen es auch. Aber sind die Piraten wirklich schon über die urbanen Milieus hinausgewachsen?Am Wochenende traf sich die Partei zum Bundesparteitag in Offenbach am Main. Mehr als 1.200 Mitglieder haben daran teilgenommen, alle waren stimmberechtigt. Bevor es losging, sprach SPD-Bürgermeister Horst Schneider über die Probleme in der Stadt, über Firmen, die hier einst ansässig waren. Schnell wurde klar: Offenbach ist arm, aber nicht sexy, strukturschwach und ohne Großstadt-Charme.Doch die Piraten haben bei der Kommunalwahl in Hessen im März dieses Jahres im Kreis Offenbach immerhin 2,5 Prozent, in der Stadt 2,3 Prozent bekommen. Das sind jeweils zwei Sitze. Und das war noch vor dem großen Hype, der nach dem 18. September einsetzte. Mit der Berliner Abgeordnetenhauswahl hat so etwas wie eine neue Zeitrechnung bei den Piraten eingesetzt. Seitdem haben sich die Mitgliederzahlen verdoppelt. Wenn man betrachtet, welche Anträge die Partei nun am vergangenen Wochenende verabschiedet hat, scheint es, als könnten sich die Berliner Piraten auch inhaltlich durchsetzen: die Forderung nach einem fahrscheinlosen ÖPNV, nach einer neuen Drogen- und Suchtpolitik, das Bekenntnis zum bedingungslosen Grundeinkommen. „Damit haben wir in Berlin eine Wahl gewonnen“, ist ein Argument, das man häufig am Saalmikrofon hört.Doch die meisten Piraten glauben nicht, dass die Hauptstädter unter ihnen nun bundesweit eine inhaltliche Vorrangstellung einnehmen. Es stimme schon, dass sie einen gewissen Einfluss hätten, sagt Marina Weisband, die Politische Geschäftsführerin der Partei. Aber es habe schon immer viele Piraten gegeben, die für das Grundeinkommen waren. Ähnlich sieht das der Politikwissenschaftler Christoph Bieber von der Universität Duisburg-Essen, der die Piraten seit ihrer Entstehung beobachtet: „Diese Strömungen hat es schon vor der Berlin-Wahl gegeben.“ Kein Landesverband habe sich vorgenommen, in Offenbach als „informelle Elite aufzutreten, und dort inhaltlich alle Register zu ziehen“.Tatsächlich ist von den 15 neuen Mitgliedern des Berliner Abgeordnetenhaus in Offenbach nicht allzu viel zu hören. Christopher Lauer steht öfter am Saalmikrofon, aber das ist man von ihm gewohnt. Der Fraktionschef Andreas Baum hingegen sitzt das ganze Wochenende an seinem Laptop, erst am Sonntagabend, als der Parteitag zu Ende geht, spricht er auf der Bühne. Sein Landesverband bietet den anderen Hilfe an. Man schaut schon ein wenig hinauf zu den Hauptstadt-Piraten, viele sprechen hier ehrfurchtsvoll von „den 8,9 Prozent“. Doch natürlich hatte man in der Hauptstadt – neben jungen, urbanen Wählern – einen entscheidenden Vorteil: Einen Stadtstaat kann man auch mit relativ bescheidenen finanziellen Mittel plakatieren. In Schleswig-Holstein ist das anders.Auch Torge Schmidt spricht deshalb in Offenbach und bittet die Piraten aus den Nachbarländern um Hilfe. Er ist zuversichtlich, dass Hilfe kommt – und auch was das Ergebnis angeht: Den Einzug werde man schaffen, „das Ergebnis aus Berlin zu toppen, ist natürlich schwer“.Mitgliederzahl verdoppeltIn Schleswig-Holstein hat sich die Zahl der Mitglieder nach dem Wahlerfolg in der Hauptstadt fast verdoppelt: „von 370 auf an die 600“, sagt Schmidt. Ein Trend, der sich im Moment bundesweit beobachten lässt – und der die Piraten selbstbewusst macht, auch jenseits der Metropolen-Regionen und Großstädte anzutreten. In Lindau zum Beispiel, rund 24.500 Einwohner, geht die Partei mit einem eigenen Kandidaten ins Rennen um das Amt des Oberbürgermeisters. Neue Stammtische gibt es in ländlichen Kreisen. Im Saarland hat sich die Mitgliederzahl ebenfalls verdoppelt, auch das nicht gerade ein urbaner Ballungsraum.Viele der neuen Mitglieder in Schleswig-Holstein seien Bewohner ländlicher Regionen, sagt Schmidt. Wäre so etwas wie das bedingungslose Grundeinkommen in seinem Landesverband überhaupt vermittelbar? „Wir haben einen ähnlichen Beschluss bereits vor Monaten in Schleswig-Holstein verabschiedet“, sagt er.Die Partei werde bei der Landtagswahl im Mai wohl mehr Stimmen bekommen, als sie bei der Bundestagswahl in dieser Region erzielte, glaubt Politologe Bieber. Doch die Piraten werden sich seiner Ansicht nach dem Fünf-Prozent-Quorum wohl „eher von unten als von oben“ annähern.Weil die Region zu ländlich ist? „Die wenigen Anhaltspunkte weisen auf eine schwierige Kampagnensituation hin“, sagt Bieber. „Ein kleiner Landesverband, keine Vertreter in den Kommunalparlamenten, und auch die Netzpolitik spielt anders als in Berlin keine hervorgehobene Rolle.“ Doch er sieht zumindest Indizien dafür, dass die Piraten nicht unbedingt nur eine urbane Szenepartei sind: Das Durchschnittsalter der Mitglieder ist seit September von etwas über 30 Jahren auf etwas über Mitte 30 angestiegen. Und auch die Mitglieder, die zum Bundesparteitag gekommen sind, würde man nicht alle der Klientel zuordnen, meint Bieber, die man „als typische Vertreter der digitalen Bohème oder der IT-Gründerszene in hochvernetzten Großstädten“ bezeichnet.
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