Immer lauter werden die Zweifel an der offiziellen US-Version des Massakers, bei dem in der Nacht zum 11. März 17 Zivilisten in den afghanischen Dörfern Najibyan und Mokhoyan getötet wurden. Die Version vom durchgeknallten Einzeltäter wankt. Vielmehr seien 15 bis 20 US-Soldaten an der Gräueltat beteiligt gewesen, lautet das Resümee einer parlamentarische Untersuchung unter Leitung des Abgeordneten Seyed Ishaq Gilani für das afghanische Unterhaus. Die achtköpfige Kommission hörte Zeugen vor Ort. Nach ihren Aussagen sollen die Soldaten gegen Mitternacht gekommen sein und eine Stunde lang gewütet haben. In zwei Gruppen seien sie in Häuser eingedrungen und hätten neun Kinder, drei Frauen und fünf Männer erschossen. Schlie
ßlich hätten sie einige der Leichen in Brand gesetzt, während US-Helikopter über den Orten des Infernos gekreist seien.Vermutet wird ein Vergeltungsakt, nachdem Aufständische am 7. März in der Nähe der beiden Dörfer einen amerikanischen Panzer in die Luft gesprengt hatten. Nach Darstellung des Parlamentsreports trieb der US-Trupp in Mokhoyan alle männlichen Dorfbewohner zusammen, stellte sie an eine Wand und schüchterte sie mit der Drohung ein, an ihren Familien werde für den Anschlag Rache genommen. Die Soldaten sollen zu einer für „Dorfstabilisierungsoperationen“ zuständigen Einheit der Special Forces zählen. Sie haben den Auftrag, bewaffnete Milizen zu rekrutieren, denen die Kontrolle der von Aufständischen gesäuberten Gebiete überlassen wird.Helikopter anwerfen Derartige Geschehnisse muten an wie aus einem Propagandavideo der Taliban und sind geeignet, das Blut der Afghanen zum Kochen zu bringen: erst GIs, die Zivilisten erschießen und Körperteile als Trophäen mitnehmen, dann Erinnerungsfotos von US-Soldaten, die auf Leichen urinieren, schließlich Koran-Verbrennungen am Stützpunkt Bagram, nun ein Massaker an Frauen und Kindern. Schon überlegt die Washington Post, ob es nicht an der Zeit sei, die Hubschrauber auf dem Dach der US-Botschaft in Kabul anzuwerfen, um notfalls Personal auszufliegen wie gegen Ende des Vietnam-Krieges 1975. Noch ist Afghanistan nicht Vietnam, aber es macht sich das Gefühl breit: Man sollte packen, bevor es zu spät ist.Während der afghanische Nationalismus einen gefährlichen Grad an Explosivität erreicht, hört das Pentagon noch eine andere Bombe ticken. Verbrechen wie das jetzt untersuchte Massaker deuten auf eine dramatisch einbrechende Moral der eigenen Truppen. In Camp Leatherneck (Provinz Helmand) mussten nicht nur die afghanischen Verbündeten, sondern auch 200 anwesende US-Marines ihre Waffen abgeben, bevor Verteidigungsminister Leon Panetta zu ihnen sprach. Wenn sich ein Regierungsmitglied der eigenen Soldaten nicht mehr sicher ist – wie lange lässt sich da noch Krieg führen?Es scheint so gut wie nichts zu geben, was die Afghanistanstrategie von Präsident Barack Obama noch retten könnte. Der große „Surge“ der hunderttausend Mann seit 2009 vermochte weder „Herz und Verstand der Afghanen“ zu gewinnen, noch den bewaffneten Widerstand auszubluten. Abkommen oder Agreements mit den Taliban stehen in den Sternen. Schon haben sie ihr Büro im Emirat Qatar wieder geschlossen und Gespräche mit der US-Regierung abgebrochen, bevor sie richtig begannen – man scheiterte schon beim Thema Gefangenenaustausch. Und was die afghanische Nationalarmee ANA angeht, so ist die zwar gewachsen, aber längst kein Stabilitätsanker, außerdem hoffnungslos von Talibanagenten unterwandert, vor deren Anschlägen jeder Schutz vergeblich scheint. Bisher fielen dieser Fünften Kolonne über 70 NATO-Soldaten und -Offiziere zum Opfer. Vor allem US-Militärberater dürfen sich jenseits ihrer Basen nirgends mehr sicher fühlen.Während über eine beschleunigte Demission nachgedacht wird, leitet Washington stillschweigend eine Transformation des Krieges ein. Die große Pleite wird zum Alibi für einen großen Coup. Das Pentagon beginnt, Vorsorge zu treffen, um seinen Fußabdruck am Hindukusch zu verewigen. Das Muster heißt: Go and Stay! Was zum Erhalt permanenter Militärbasen in Afghanistan noch benötigt wird, ist die vertragliche Legitimation. Nun ist es gerade nicht der günstigste Augenblick, den afghanischen Präsidenten zur Unterschrift unter ein strategisches Partnerschaftsabkommen einzuladen. Doch wird Hamid Karzais Einverständnis gebraucht und zwar dringend – vor dem NATO-Gipfel am 20. und 21. Mai in Chicago auf jeden Fall.Lawrows noble GesteVielleicht wird alles einfacher als gedacht, gibt es doch zwischenzeitlich mit der russischen Regierung einen neuen aktiven Mitspieler in dieser Partie. „Die US-geführten NATO-Truppen können nicht aus Afghanistan abziehen, bevor die eigenen Sicherheitskräfte des Landes fähig sind, Sicherheit zu garantieren – das ist internationales Gesetz“, bemerkt Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview des afghanischen Fernsehkanals TOLO. Er bestehe darauf, das geltende UN-Mandat für die Afghanistan-Mission vor dem Abzug zu erfüllen – das verpflichte zu Befriedung und Wiederaufbau. Zugleich, so Lawrow, müsse es der UN-Sicherheitsrat genehmigen, wollten die Amerikaner nach dem Rückzug weiterhin Militärbasen in Afghanistan unterhalten. Der Plan Washingtons, sich aus dem UN-Mandat in die flexible Bilateralität mit einer schwachen Regierung in Kabul zu retten, stößt nicht allein in Moskau auf Widerstand. Auch die offiziöse China Daily greift wegen des Kapitalverbrechens von Kandahar die Strategie der USA ungewohnt heftig an.Umso mehr erstaunte Lawrow vergangene Woche mit einem überraschenden Schachzug. Er stellte den Amerikanern einen Luftstützpunkt in Uljanowsk in Aussicht, um – „im Sicherheitsinteresse Russlands“ – etwas für den Erfolg der Afghanistan-Mission zu tun. Seit die Nachschublinien in Pakistan brach liegen, benutzt die NATO innerhalb des Northern Distribution Networks ohnehin russische Luftkorridore und Bahntrassen. Doch eine Airbase für Truppen und Ausrüstungen auf russischem Boden, noch dazu in der Geburtsstadt Lenins? Eine solche Offerte lässt sich nur schwer ausschlagen. In Erwiderung der noblen Geste verhandelt bereits der US-Senat über die Aufhebung der Jackson-Vanik-Regelung von 1974, einem Überbleibsel aus der Ära des Kalten Krieges, das den Handel mit Russland beschränkt. Doch das Zuckerbrötchen von Uljanowsk dürfte noch teurer werden. Es könnte einen geopolitischen Preis haben, den Washington sich nicht leisten will.