Pelikane und Party-Performances

Blogauszüge 100° Festival Berlin. Die Hälfte des Marathons ist erreicht, Körpertemperatur steigend. Die Redaktion des Festival-Blogs gibt Einblicke

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Debatten im Discokugelschein: Am Donnerstagabend auf dem 100° Festival in den Sophiensaelen
Debatten im Discokugelschein: Am Donnerstagabend auf dem 100° Festival in den Sophiensaelen

Foto: Arne Schmitt

Pelikane im Sonnenuntergang, lebensechte Migrationsgeschichten. Performative Psychogramme von Rambo bis Mc Hammer, kolonial-historische Trips zum Kilimanjaro. Studien zur Vitalität des deutschen Gartenvogels.Oder: pornöse Performances mit Mayonnaise. Seit mehr als 48 Stunden bewegt sich die 100Wort-Blogredaktion mit großem Spaß an freiwilliger Reizüberflutung durch den theatralen Dschungel des 100° Festivals. Unter www.100wort.blogspot.de findet sich das laufend aktualisierte Archiv unserer Eindrücke. Hier eine kleine Auswahl von Rezensionen.

Luftikuss.
Rezension zu: Svetlana Schwin | Der Kuss
von Franziska Schurr

Der Titel der Soloperformance „Der Kuss“ schürt Ängste oder Hoffnungen. Die werden am Einlass befeuert werden: Ob man einen Kaugummi oder Tic Tac konsumieren wolle. Ja, danke, nimmt man lieber mal. Alle drücken sich an der Wand herum, Tanzstundenbenehmen. Die Performerin sitzt in der Mitte im Dunklen, beleuchtet mit einem Spiegel kreisrund ihren Mund. Der macht so, als sei er ein unabhängiges Wesen, ein kleiner Mond oder wabernde Masse, die sich ihres Aggregatszustands nicht sicher ist, Tor zur Außenwelt für kleine Leidenschaftsseufzer. So also sieht knutschen aus, wenn niemand am anderen Zungenende hängt! Die Dielen des Ballhauses knarzen, bei jedem Geräusch vermutet man hinterrücks den Angriff. Er bleibt aus.

Wir haben jetzt keine Hoffnung mehr
Rezension zu: Ulrike Günther | Frühlings Erwachen
von Silas Matthes

Einmal im Traum ist Roya in den Palast des iranischen Präsidenten gegangen. Am Körper trug sie Sprengstoff, sie wollte den Präsidenten töten. Sie jagte sich in die Luft und als sie von weit oben hinabblickte, waren alle tot, nur der Präsident lebte. Er konnte nicht sterben, sagt sie, die Revolution ist nur tot. Sie spricht mit ihrem Vater aus der Ferne, ob er vergessen habe, 1979, als er kämpfte und in der Menge vorne ganz kurz bist du unbesiegbar, wie er Dinge änderte, aber am Ende habt ihr alles nur schlimmer gemacht. Roya erzählt in Deutsch und in Persisch, erzählt von ihrer Revolution, nur fünf Jahre sind vergangen, aber die Welt blickt jetzt an andere Orte. Es geht Roya gut in Deutschland, es geht mir wirklich gut, Papa, aber die Frage bleibt: War es das wert? Das alles? Ein ehrliches und bewegendes Stück Theater.

Bloody Sarah
Rezension zu: Sarah Calver | I gave him an orchid
von Lara Sielmann

Sarah Henley ist heartbroken – so sehr, dass sie sich im Jahre 1885 von der Bristol Suspension Bridge 75 Meter in die Tiefe stürzt, nur um zu überleben, um dann doch noch ihr Glück zu finden. Knapp 150 Jahre später steht die britische Theatermacherin Sarah Calver in der Kantine der Sohiensaele. Sie erzählt von der jungen Ms. Henley, während sie ein Herz zerhackt, das sie anschließend in einem Mixer zu einem Drink verarbeitet. It's true we did have some fun, but it's better that it is done, sagt sie gegen Ende, und trinkt das Glas chopped heart aus. Gebrochene Herzen, ob früher und heute, sind nie schön, aber so auf der Bühne ganz amüsant.

There is a light that never goes out
Christough! & Dänny D. | Eröffnungsparty Ballhaus Ost
von Anna Riedel

Die Performer Christough! & Dänny D. machen am Eröffnungstag des Ballhaus Ost alles falsch. Anstatt den Fokus der Zuschauer ihres Mammutprojekts von Anfang an auf die vergehende Zeit zu richten, pumpen sie die Masse mit musikalischem Opium voll. Britney Spears, Backstreet Boys und Bad Romance animieren die Teilnehmer zwar zum Tanzen und Trinken, auf die Uhr sieht jedoch niemand. Meditative Zustände kommen höchstens auf der Drogentoilette auf. Unterstützt von einer bunten Lichtshow versuchen die Performer über Stunden hinweg alles, aber auch Perlen der elektronischen und britischen Musik animieren die Zuschauer nicht zum In-sich-Gehen und zur Reflexion. Gegen sechs Uhr geben die Performer erschöpft auf. Von denen, die nicht vorzeitig zu anderen Stücken verschwunden sind, gibt es anerkennenden Applaus. Erfolg sieht allerdings anders aus. Für eine philosophische Veranstaltung viel zu viel Spaß und Alkohol mit zu wenig ernstzunehmendem Inhalt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

100WORT

Das unabhängige Festivalblog zum 100° Berlin, dem 11. Vier-Tage-Marathon-Festival des Freien Theaters vom 20. bis 23. Februar 2014.

100WORT

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden