Vier Tage, drei Spielstätten, über einhundert Veranstaltungen: Das 100° Berlin Festival, das vom heutigen Donnerstag bis Sonntag über die Bühnen des HAU Hebbel am Ufer, der Sophiensaele und des Ballhaus Ost tobt, bietet dem Publikum so viele freie Theater-, Tanz- und Performance-Produktionen, dass Orientierung kaum möglich und Überforderung vorprogrammiert ist. Die Redakteur_innen des Festivalblogs 100WORT schlagen sich eigene Schneisen durch das überfordernde Programm, spüren den Themen nach, die die Künstler_innen gegenwärtig umtreiben und bergen schöne oder verstörende Fundstücke aus dem hundertstündigen Ausnahmezustand. Heute im Blog: 100WORT-Autorin Franziska Schurr, die das 100° Berlin in diesem Jahr zum ersten Mal besucht, bereitet sich auf ihr Festivaldebüt vor.
Das 100° muss grauenhaft sein! Der Vorhof der Tausendmöglichkeitenhölle, die Beihilfe zum Suizid für Entscheidungsschwache. Survival of the Fittest, haucht die freie Theaterszene heiß und unheilvoll in meinen 100°-Debütantinnen-Nacken, und ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht: Der schirokkoartige Luftstrom, der Überforderung und Wettbewerb verheißt und das Wasser in meinem Körper zum Sieden bringt, oder die Unwissenheit darüber, was „die aus dem Off“ schon wieder mit mir vorhaben. Ich schwitze, brauche dringend (bis morgen!) eine Strategie und wühle mich manisch durch alle 100WORT-Einträge meiner bloggenden Vorväter und -mütter. Aus den Fundstücken bastele ich folgendes Regelwerk, das ich, während ich mit Birkenzweigen mein glühendes Fleisch geißele, wie ein Mantra vor mich hinmurmele:
§1
Auftritte und Abgänge: Never just in time! Performances stets nach Vorstellungsbeginn aufsuchen, vor dem Applaus wieder verlassen, nächste crashen. Bei Langeweile sofort raus. Heißt für andere: Bestimmt wichtig, erlauchtes Jurymitglied, ehrenwerte Kuratorin, junger aufstrebender Regisseur. Gedanken an Vergleich mit Bildzeitungsschlagzeilenlektüre in der Kassenschlange abschütteln, lieber von der Würdigung der besonderen VIP-Aura durch ein
Foto von Henrike Iglesias oder die Zerstörung meines ganz persönlichen Lieblingssongs durch
Richi Rich träumen.
§2 Rückgriff auf
Übergangsrituale, wissenschaftlich dafür bekannt, noch jedes krisengeschüttelte Individuum in den Schoß der Zivilisation zurückgeführt zu haben. Hier: Shuttlebusfahren unter Inkaufnahme bzw. Billigung der gedanklichen Echolalie einschlägiger Zeilen aus den Demobändern. Beichtstuhlbesuche beim
Klub der Kavaliersdelikte. Unterbewusstseinskritzeleien an den vorgesehen Stellen im
Programmheft.
§3 Unter Androhung des Nachsitzens auf Peters und Pauls höchstliegender Schwitzstubenpritsche
zu vermeidende Fragen im
WAU und an den Spielstättenbars:
Sag mal, Performerbody, magst du mich von deiner wolf-of-wall-street-reifen Künstlergage nicht mal zu nem Bier einladen? / Und – rentenversichert? / Geile Schafskopfmaske – was wolltest du mir eigentlich damit sagen?
§4 Premierensekt/Nichtpremierensekt: Der erste richtet auf. Der zweite hält konstant. Und so fort.
§5 Wahl der Unterwäsche angesichts der Unmöglichkeit eines Wechsels während nicht vorhandener Programmlücken, bei gleichzeitiger Wahrscheinlichkeit von Übergriffen auf meinen phänomenalen Zuschauerkörper in Zeiten des allumfassenden Wunsches nach Überschreitung der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum unter Zuhilfenahme aller vier Elemente: die ungeblümte, nichtweiße, comicapplikationslose, intransparente, möglichst zusammenpassende, gut sitzende, also weder einschneidende, noch von Oma als ordentlicher Schlüpfer betitelte, lochfreie. (Ähnliches gilt für Socken respektive Strumpfhosen.)
§6 Urteil: Endlich mal selber „Dschüri“ sein. Gnadenlos für den Publikumspreis abstimmen. Winterolympiadenmentalität ablegen. Eher à la Wolfgang Joop: „Du bist ein Performer, der besser zu Hause aufgehoben ist.“
Das 100° Berlin Festival startet heute jeweils 19 Uhr am HAU Hebbel am Ufer und in den Sophiensaele. Das vollständige Programm finden Sie hier. Der 100WORT-Blog begleitet das Festival live.
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