Wurzelwerk Kulturlandschaft

100°Berlin Das 100° Festival hat mal wieder gezeigt: Ohne die freie Szene würde die Berliner Kulturlandschaft eingehen - doch es mangelt an Geld und Koordination

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Besucherinnen und Besucher beim Mitternachtsradio auf dem 100° Festival in den Sophiensaelen
Besucherinnen und Besucher beim Mitternachtsradio auf dem 100° Festival in den Sophiensaelen

Foto: Arne Schmitt

Während vier Tagen im Februar feiert die freie Szene in Berlin auf dem 100° Festival Produktionen im Stundenrhythmus und sich selbst. Was dieses offene und nicht kuratierte Festival so besonders macht, ist die Tatsache, dass jede-jeder-jedes mitmachen darf, die-der-das sich rechtzeitig anmeldet.

Soviel Freiheit zeigt, dass die Kulturlandschaft in Berlin in ihrer Vielfalt und Lebendigkeit nicht vor den Toren der Institutionen halt macht. Sie breitet sich aus und setzt Markanzen an verschiedenen Punkten über die gesamte Stadt verteilt.

Die freie Szene ist es, die über die Konventionen hinaus andere, neue oder untypische Lösungen von Kunstproduktion zeigt – und das mit Erfolg. Gruppen wie She She Pop, Gob Squad und Rimini Protokoll werden mit ihren Formaten zu Theatertreffen eingeladen und feiern inzwischen auch international Erfolge.

Und das ist nur ein kleiner Teil einer gewaltigen Masse freier Kunstschaffender aus unterschiedlichsten Disziplinen, die sich über alle Bezirke der Stadt verteilen. Aber genau diese Zerstreuung ist es, die die Wahrnehmung behindert. Es scheint unmöglich, den ca. 40.000 Künstler*innen der freien Szene gleichmäßig viel Aufmerksamkeit und wohl wichtiger: finanzielle Förderung zu gewährleisten.

Denn gerade letztere ist eine notwendige Grundlage, um die Heterogenität der Kulturlandschaft zu erhalten – und die Vielfalt einer Landschaft ist Vorraussetzung für ihr nachhaltiges Bestehen. Monokultur ist auf Dauer nicht nur langweilig, sie raubt ihrem Boden auch wichtige Nährstoffe. Eine Fruchtfolge ist notwendig, um Mineralien zu schaffen. Es ist auf den ersten Blick nicht sichtbar, was sich dort im Boden abspielt, doch Bäume fallen ohne ihr funktionsfähiges Wurzelwerk.

Wie kann eine Landschaft bestehen bleiben, wenn das vielwurzelige System, das sie am Leben erhält, nicht zu Sprache bringen kann, was es benötigt, um zu funktionieren?

Christophe Knoch ist so einer, der das – so oder so ähnlich – gefragt hat, und der dem Rhizom zum Wort verhelfen möchte. Er gestaltet das Mitternachtsradio des 100° Festivals in den Sophiensaelen und ist einer von mehreren Sprechern der Koalition der freien Szene aller Künste in Berlin, ein Zusammenschluss freier Kunstschaffender und deren Verbänden aus allen Disziplinen. Die Koalition war auf dem 100° Festival in mehreren Expertengesprächen und Einzelberatungen durch den Landesverband freie darstellende Künste (LAFT) vertreten.

Die Koalition schafft Kommunikation zwischen den Wurzelästen und macht aufmerksam auf die Probleme, mit denen sich die Freischaffenden konfrontiert sehen. Gerade dieser Tage, wo Berlin stetig teurer wird und die Mieten für Wohnung und Atelier, für Proberäume und Aufführungsorte steigen.

95% der Kulturschaffenden Berlins sind aus der freien Szene, erhalten aber nur 5% des Berliner Kulturhaushaltes. Der große Rest kommt den Institutionen zugute.

Eine Aufteilung, die von vielen als ungerecht empfunden wird – die Stimmen, die eine Veränderung fordern, werden immer lauter. Hierbei soll es aber nicht um eine bloße Umverteilung gehen, bei der den institutionellen Stätten Gelder abgeschöpft würden.

Nein, die Forderungen sind kreativer.

Vorausgegangen waren Gedanken über eine Finanzierung mittels Einnahmen aus der City Tax, wo immerhin 25 Millionen zu erwarten sind. Dieser Vorschlag stieß seitens der Politik zunächst auf Zuspruch, wurde dann aber durch einen semantischen Eingriff letztlich zunichte gemacht. Umformuliert hieß es plötzlich nur noch: Wir nehmen 50% aus den überschießenden Einnahmen.

Knoch nennt das absurd, wenn eine bestimmte Einnahme erwartet wird und gleichzeitig nicht davon ausgegangen wird, dass diese Einnahme Überschüsse erzielt, die dann wiederum der freien Szene als Förderung zugute käme. »Das ist nur eine sehr politische Form zu sagen: Wir geben gar nichts weiter. Das ist richtiger Betrug gewesen.«

Derzeit lautet der Vorschlag der Koalition: einen Freien Kulturfonds Berlin zu schaffen, der jährlich 5 Millionen der freien Szene zur Verfügung stellt.

Das Wurzelwerk im Boden der Kulturlandschaft arbeitet weiter – damit wir alle etwas von den Früchten haben.

Matthias Nizinski

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Geschrieben von

100WORT

Das unabhängige Festivalblog zum 100° Berlin, dem 11. Vier-Tage-Marathon-Festival des Freien Theaters vom 20. bis 23. Februar 2014.

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